Noch bevor er den Quälgeist von seinem Arm abstreifen konnte, machte Tolpan zwei taumelnde Schritte nach rechts, bis er sein Gleichgewicht wiederfand, indem er sich auf seinen Stab stützte. Erneut drehte sich die Welt um ihn, und wieder war ihm gar nicht wohl im Magen. Dann hörte er Glöckchen klingeln, zwang sich aufzusehen, und sah einen Karren um eine Kurve der Straße vor ihm biegen. Es war die übliche Sorte von zweirädrigen Karren, wie sie von Hausierern und Kesselflickern benutzt wurde, an allen Seiten von buntbemalten Holzwänden umschlossen und mit einer Leinenplane obendrüber. Tolpan blinzelte und rieb sich seine Augen, weil alles verschwamm. Als er sie wieder aufmachte, sah er den Wagen umgekippt auf der Seite liegen; ein Rad drehte sich wie verrückt, doch Pferd und Fahrer waren grausam niedergemetzelt. Der erschrockene Kender schloß die Augen und schüttelte den Kopf, um wieder klar sehen zu können. Als er wieder die Straße hinunterblickte, war sie leer.
Da schlug sein Herz schneller, denn er hörte, wie der Wind ihm Glockenklang zutrug. Staunend sah er zu, wie ein Karren um die Kurve bog, der dem ganz ähnlich sah, den er gerade gesehen hatte. Hinter einem altersschwachen, grauen Klepper ruckte und schaukelte er über den weichen Weg. Auf dem Kutschbock saß ein schmächtiger Mensch, der ganz versunken vor sich hin summte.
Tolpan war sicher, daß gleich etwas Schlimmes passieren würde.
Also schwang er seinen Hupak über dem Kopf und brüllte: »Achtung! Gefahr!« Noch währenddessen geschah alles mögliche. Das Pferd, das durch das Schreien und die Bewegung erschreckt war, wich zurück und stieß dabei den Wagen vom weichen Straßenrand in einen breiten Graben voll Wasser. Der Karren neigte sich gefährlich, blieb dann aber im Matsch stecken. Tolpan hörte ein lautes Schnappen und Rascheln. Als er hinschaute, sah er einen dicken, mindestens menschengroßen Baumstamm an einem Seil durch die Zweige herunterschwingen. Er fegte über die Straße, und zwar genau dorthin, wo der Karren gewesen wäre, wenn das Pferd nicht gescheut hätte.
Kehlige Laute und Krächzer erfüllten die kühle Luft, als mehrere große, häßliche Wesen aus der Deckung des Waldes brachen und auf den Karren zustürmten. Hobgoblins! Tolpan hatte mit diesen wilden Kerlen auf seinen Reisen schon oft genug zu tun gehabt und erkannte sie auf der Stelle. Die stinkenden, schmutzigen, sadistischen Monster trugen meist ungegerbte Häute und schwangen Keulen oder erbeutete Äxte, wenn sie Reisenden auflauerten oder einsame Höfe überfielen.
Sie holten mit ihren langen, behaarten Armen weit aus, während sie durch den Matsch auf den Karren zusprangen, der jetzt hoffnungslos festsaß. Das Pferd wieherte und keilte aus und schaffte es irgendwie, den Anführer der Hobgoblins zu erwischen. Das Monster brach mit dem Gesicht nach unten im Matsch zusammen, wodurch seine gebrochenen Rippen verborgen blieben.
Rasch legte Tolpan seinen Stein in die Hupakschlinge. Er brauchte nur einen Moment zum Zielen, ehe er ihn auf den nächsten Hobgoblin schleuderte. Der Stein traf ihn hart im Rücken, was einen unbändigen Schmerzenschrei hervorrief. Wütend fuhr der Hobgoblin herum und fixierte Tolpan mit seinen roten Augen. Mit einem schmierigen Grinsen, bei dem man seine gelben Zähne sah, quiekte er einem anderen Hobgoblin etwas Unverständliches zu. Weil sie mit einer leichten Beute rechneten, schossen beide auf den Kender zu.
Tolpan hob ganz ruhig einen weiteren Stein vom Weg auf. Der hier war klein und scharfkantig, genau das, was er brauchte. Er nahm sich Zeit beim Einlegen und Zielen. Als der Hupak vorschnellte, zuckte der Kopf des zweiten Hobgoblins zurück. Das Monster fuhr halb herum, um dann tot auf die Straße zu krachen. Tolpan widerstand dem Drang aufzujubeln, denn er wußte, die Gefahr vor ihm war noch nicht beseitigt.
Ohne das Schicksal seines Genossen zu bemerken, rannte der erste Hobgoblin schnurstracks auf den scheinbar unbewaffneten Kender zu. Tolpan pflanzte sich breitbeinig auf und hielt den Hupak wie einen Bauernspieß vor sich. Der Hobgoblin brüllte wild, hob mit seinen beiden knorrigen Händen die Keule und stürzte sich auf ihn.
Im allerletzten Moment drehte Tolpan den Hupakstab um. Das metallbeschlagene Ende zeigte nun auf das heranstürmende Monster, und dann stieß der Kender den Hupak mit aller Kraft nach vorne. Er merkte, wie das Holz zitterte und knirschte, als seine Waffe die dicke Haut des Hobgoblins durchdrang und direkt in seine Eingeweide sank. Als der Hobgoblin zu Tode getroffen stöhnte, wehte sein heißer, nach verfaultem Fleisch stinkender Atem über Tolpan hinweg. Der sprang beiseite, damit der taumelnde Körper an ihm vorbei auf den Boden knallen konnte. Der Kender kicherte hörbar, als ihm der letzte, ungläubige Blick in den feindseligen Augen der Kreatur bewußt wurde.
Die Schreie von Pferd und Mann brachten Tolpan schnell wieder in die Wirklichkeit zurück. Ein weiterer Hobgoblin versuchte, den Zügel des Pferds zu erwischen, während ein anderer geradezu spielerisch mit dem Menschen kämpfte, der sich ziemlich kläglich mit einem großen Holzhammer verteidigte.
Tolpan duckte sich, zog ein langes, dünnes Messer aus der Hose und rannte zum Kampfplatz. Ohne langsamer zu werden, lief er direkt an dem ersten Hobgoblin vorbei. Im Vorübereilen stach er mit dem Messer zu und durchtrennte das feste Fleisch kurz unter dem Hintern des Monsters. Vor Schmerz und Schreck heulte der Hobgoblin auf und geriet ins Taumeln, als die jetzt nutzlosen Muskeln seines verkrüppelten Beins nachgaben. Schauderhaft jaulend, wankte er mit nachgezogenem Bein in den Wald und verschwand.
Der letzte aus der Gruppe, der mit dem Menschen herumgespielt hatte, wurde durch das Schreien abgelenkt. Was er jetzt sah, ließ ihm den Unterkiefer heruntersacken. Drei seiner Gefährten lagen tot im Schlamm, ein vierter war gefährlich verwundet und auf der Flucht, und ein Kender mit einem blutigen Messer grinste ihn an.
Der Kender zuckte zusammen, als der Holzhammer des Mannes auf den Hinterkopf des Hobgoblins heruntersauste. Der rollte mit den Augen, und sein Körper sackte auf dem weichen Boden zusammen.
»Ich glaube, der ist ziemlich tot«, befand Tolpan.
Der Mann starrte voller Entsetzen auf das, was er getan hatte, ließ den Hammer fallen und lehnte sich ein paar Minuten keuchend und zitternd an einen Baum hinter sich. »Danke für deine Hilfe, Fremder«, brachte er schließlich heraus. »Ich wußte, es war noch zu früh, um aufzubrechen, ich wußte es ja. Habe ich auf mich gehört? Nein, ich habe auf Hepsiba gehört. ›Wir brauchen Geld. Es ist Frühling. Los, auf die Straße, du dummer Faulpelz!‹ Das hat sie gesagt. Also bin ich losgefahren, vor allem, um ihrer Nörgelei zu entkommen, geb ich ja zu. Und da steh ich nun, mitten in der Wildnis und kämpfe um mein Leben, während mein Karren bis zur Achse im Schlamm steckt. Diese Reise ist gewiß von den Göttern verflucht!«
»Worüber beschwerst du dich eigentlich?« fragte Tolpan verwundert. »Du lebst, und die anderen nicht.« Er nickte zu dem Gemetzel hinter ihnen hinüber. »Ich würde sagen, du hattest einen höchst erfolgreichen Tag, abgesehen davon, was mit deinem Karren passiert ist.« Tolpan hüpfte um die matschigen Schlaglöcher neben dem Karren herum. Nachdem er seine Hosen hochgekrempelt hatte, kauerte er sich hin und spähte unter den Wagen.
»Der sieht wirklich festgefahren aus. Aber ich hab mal erlebt, wie Käferfresser Warzenschläger – das war ein Halboger aus Kenderheim – ganz allein so einen Wagen aus dem Schlamm gehievt hat. Leider ist dabei die Achse gebrochen, aber er hat es schon richtig angepackt. Was soll’s, er hat ihn einfach umgedreht, und Willie Wontori – das war der Wagenmacher von Kenderheim – hat sie repariert, da war sie wieder so gut wie neu.«
»Wer, zum Kuckuck, bist du überhaupt?« fragte der Mann, als der Kender endlich eine Pause machte.