Sie wiederholten den Versuch, wobei Tolpan fester zog und Gäsil länger schob. Ächzend und stöhnend richtete sich der Karren auf und rollte mit einem gewaltsamen Ruck aus dem Schlammloch, wodurch Tolpan zurückflog, gleich nachdem es Bella gelungen war, ihre Lippen um das vorgehaltene Zuckerstück zu schließen.
Tolpan fand Gäsil auf dem Bauch in dem Schlammloch liegen, in dem der Wagen gesteckt hatte. »Oh je, wie ist denn das passiert?« fragte der Kender, während er Gäsil auf die Beine half. »Du solltest besser aufpassen. Du siehst ja schlimm aus.«
Als Antwort öffnete Gäsil die Hintertür seines Karrens und holte eine saubere Tunika und frische Hosen hervor. Zitternd zog er die kalten, schmutzigen Sachen aus, nahm die Wertsachen aus den Taschen und schlüpfte schnell in die frischen Kleider. »Das ist besser, aber bevor mich irgendwer in Solace anstellt, muß ich wohl noch baden.«
»Solace?« rief Tolpan aus. »Mensch, da komm ich doch gerade her! Du mußt wirklich auf den Frühjahrsmarkt gehen – da kannst du bestimmt eine Menge Geld verdienen.«
»Da wollte ich ja hin«, sagte Gäsil. »Ich hatte mir gute Geschäfte erhofft, aber ich fürchte, ich habe den größten Teil des Festes bereits versäumt. Jetzt ist es sicher zu spät, um noch einen guten Stand zu bekommen.«
»Weißt du, einer meiner besten Freunde hat dort einen Stand!« prahlte Tolpan. »Na ja, vielleicht nicht gerade mein bester Freund, aber ich glaube nicht, daß er mich noch haßt. Wir haben uns kennengelernt, als ich für ihn auf einen Teil seiner Waren aufpaßte, aber es gab ein kleines Mißverständnis deswegen. Vielleicht gibt er dir gegen einen kleinen Betrag etwas von seinem Platz ab.«
Tolpan nahm das Armband ab und wiegte es in der Hand. »Dieses Armband gehört übrigens ihm, und er braucht es ziemlich dringend. Keine Ahnung, wie es heute morgen schon wieder in mein Gepäck geraten ist, aber so ist das Leben halt. Wenn du sowieso in die Richtung fährst, kannst du es für mich zurückbringen. Mein Freund war letztes Mal furchtbar aufgeregt, als er es verloren hatte. Er hat es für eine Kundin gemacht, die schon bald kommen will, um es abzuholen, darum ist er dir bestimmt sehr dankbar, wenn du es zurückbringst. Vielleicht überläßt er dir dafür sogar umsonst einen Teil von seinem Stand!«
Obwohl Gäsil dem Kender für seine Hilfe dankbar war, lauschte er Tolpans Geschichte mißtrauisch. »Ich weiß nicht…«, zögerte er. Er war nicht gerade darauf versessen, für jemand anderes Wertsachen durch die Weltgeschichte zu schleppen und zu beschützen, besonders wenn sie vorher einem Kender in die Hände gefallen waren. Wie Tolpan bereits selbst erklärt hatte, neigten die Leute dazu, die Absichten von Kendern falsch zu verstehen. Außerdem hielt sich Gäsil an den Grundsatz, sich in nichts einzumischen, was ihn nichts anging.
»Aber warum nicht?« fragte Tolpan. »Du brauchst einen Stand. Mein Freund braucht sein Armband zurück. Und ich muß hier lang, von Solace fort. Es gibt doch keine bessere Lösung.« Das Zögern des Kesselflickers überraschte Tolpan, doch dann fügte er hinzu: »Deine Frau würde von nichts erfahren, wenn es kein Geld kostet, oder?«
Unbeabsichtigt hatte er das entscheidende Argument ins Spiel gebracht. Nur um sicher zu sein, zog Gäsil einen kleinen, vierseitigen Würfel aus der Hosentasche und warf ihn auf die hintere Wagenstufe. Da ihn die Antwort offenbar überzeugte, steckte er den Würfel wieder ein, sah auf und sagte: »Einverstanden!«
»Prima! Sein Name ist Flint Feuerschmied«, sagte Tolpan und zog seine Schreibsachen und ein Stück Pergament aus seiner Kartentasche. Er zeichnete eine Karte vom Festplatz, auf der er Flints Stand mit einem Kreuz markierte. »Es wird dir nicht schwerfallen, ihn zu finden, aber falls doch, probier’s im Wirtshaus ›Zur Letzten Bleibe‹. Da ist er anscheinend Stammgast, und ich bin sicher, daß du da auch ein Bad bekommst.«
Tolpan warf einen letzten Blick auf das Armband. Er würde seine bezaubernde Schönheit und das Ungewöhnliche daran vermissen. Dennoch hielt er es dem Kesselflicker ohne Bedauern hin. Gäsil steckte es in die Hosentasche und sprang ohne Umschweife auf den Kutschbock seines Wagens.
»Lebwohl«, rief der Kesselflicker. »Du hast mir das Leben gerettet. Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt.«
Tolpan winkte und gab zurück: »Gern geschehen. Alles Gute. Und grüß Flint von mir.«
Der Kesselflicker gab der Stute die Zügel, und Bella zog an. Der Wagen setzte sich nordwärts in Richtung Solace in Bewegung, umfuhr die Leichen auf dem Weg und ließ Tolpan hinter sich, der nun seine Reise fortsetzen konnte.
5
Die Leihgabe
Gäsil Bischof war kein lebensfroher Mensch. Er hatte sich schon lange dem Schicksal ergeben. Gäsils Fatalismus wurzelte in seiner Kindheit in der Provinz Throt an der Ostküste von Solamnia, das von hier aus im Norden lag. Die Throtianer waren insgesamt ein abergläubisches Volk von Vagabunden mit einer reichen Überlieferung an Ammenmärchen und Sprichwörtern. Infolgedessen gab es kaum ein Ereignis in seiner Vergangenheit, das er nicht – im nachhinein und bei gründlichem Nachdenken – irgendwelchen übergeordneten Mächten zuschrieb. Alles, was im Leben geschah, war Glücksache. Zum Beispiel Leute, die Geld hatten, die hatten Glück. Gäsil, der keins hatte, hatte Pech. Das schlimmste daran war, daß Glück oder Pech oder das Fehlen von beidem nur von übernatürlichen Launen abhing, so weit er das beurteilen konnte.
Wenn ein Mann nicht daran glaubt, daß harte Arbeit durch Wohlstand belohnt und Schlendrian durch Armut bestraft wird, ist er normalerweise kein sehr eifriger Arbeiter. Doch wie gleichgültig das Schicksal auch sein mochte, Gäsil wußte, daß von seiner Frau Belohnung und Vergeltung (besonders Vergeltung) reichlich zu erwarten waren.
Er hatte sie vor ein paar Jahren kennengelernt, als er in die Stadt Dern gereist war und dort gearbeitet hatte. Dort lebte Hepsiba heute in dem großzügigen Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie war das einzige Kind gewesen und ihr Vater für dortige Verhältnisse ein wohlhabender Kaufmann. Hepsiba war über alle Maßen verwöhnt worden, und das hatte ihr Mann jetzt zu büßen.
Gäsil hatte mit ihrem Vater in dessen Laden geschäftlich zu tun gehabt, als Hepsiba eingetreten war. Im gleichen Moment hatte es vom klaren Himmel gedonnert, und ein Blitz hatte die Dorfglocke getroffen. Das mußte einfach ein Zeichen gewesen sein, und Gäsil war bereit. Doch er traf nie eine Entscheidung – zumindest keine wichtige –, ohne sein ›Auge‹ zu befragen.
Manche Leute hatten Kaninchenfüße dabei. Throtianer warfen einen ungewöhnlichen, vierseitigen Würfel, den sie ›das Auge‹ nannten. Im Prinzip war es dasselbe, als wenn man die Zukunft aus den Karten las, nur schneller. Jede Seite des Auges entsprach einer Facette des Schicksals. Das stetige, fruchtbare Element Erde symbolisierte Glück; das schwere, behindernde Wasser Pech; Luft bedeutete eine Chance, weil sie sich immer verändert. Feuer stand für Tod. Gäsil hatte noch nie Feuer geworfen, doch er hatte mal einen Mann gekannt, dem das passiert war. Der arme Kerl drehte daraufhin vor Angst durch und stürzte sich von einer Klippe. Die Prophezeiung hatte sich bewahrheitet.
An dem Tag, als er um Hepsibas Hand anhielt, hatte Gäsil das Symbol für Erde geworfen – Glück. Da es keine anderweitigen Bewerber gab und sie nicht mehr die Jüngste war, hatte sie sich sofort einverstanden erklärt. Schon am Nachmittag waren sie verheiratet gewesen.
Bereits Stunden nach der Hochzeit begann Gäsil, sich zu fragen, ob er das Auge nicht vielleicht irgendwie falsch interpretiert hatte, denn Hepsiba erwies sich körperlich wie charakterlich als reizlos. Statt dessen war sie mißtrauisch, selbstsüchtig und eingebildet. Aber viel schlimmer noch für Gäsil war ihre Fähigkeit, jedem die Laune zu verderben und alles Schöne häßlich erscheinen zu lassen. Er machte sich keine Illusionen über sein Aussehen mit seinen fahlen Haaren, seinen groben Knochen und seinen großen Füßen, doch er hatte ein gutes Herz und immer ein Lächeln auf den Lippen. Er war davon überzeugt, daß sie auch seine guten Seiten erkannt hätte, wenn ihr irgend etwas anderes als Geld wichtig gewesen wäre.