Obwohl er so unglücklich war, glaubte Gäsil daran, daß es einen Grund gab, warum das Schicksal ihn und Hepsiba zusammengeführt hatte. Er hoffte nur, daß sie ihn lange genug am Leben lassen würde, bis er es entdeckte.
Deshalb verbrachte er viel Zeit auf den Straßen und reparierte, was kaputt war, wo auch immer das sein mochte. Er reiste den Festen nach, und in Solace fand das erste und vielleicht beste Fest des Jahres statt. In jeder Stadt blieb er bis zu einer Woche, wenn die Geschäfte gut gingen. Manchmal war er bis zu sechs Monaten am Stück unterwegs, besonders wenn das Wetter gut und die Leute freundlich waren, wie dieser geschwätzige, kleine Kender, der ihn vor den Hobgoblins gerettet und ihm geholfen hatte, seinen Wagen aus dem Graben zu ziehen. Das Kerlchen war der am wenigsten lästige Kender, den Gäsil je getroffen hatte.
Kurz nach Mittag erreichte Gäsil die Abbiegung nach Solace am Südende des Krystallmirsees. Er lenkte Bella nach rechts, und der Karren rollte auf die alte Steinbrücke über den Solacer Bach zu. Dort wurde der Verkehr dichter. Gäsil nickte grüßend dem Fahrer eines Wagens aus der Gegenrichtung zu.
Vor ihm betraten gerade zwei Wanderer die Brücke. Sie schienen ziemlich in Eile zu sein. Ihr eiliges Tempo wurde von dem Kleineren der beiden angegeben, einem Zwerg mit schon reichlich grauen Haaren und einem überaus finsteren Gesichtsausdruck. Der andere, der die schönen, weichen Züge eines jungen Elfen hatte, ging beschaulicher. Beim Gehen wandte er sein Gesicht dem Zwerg zu, und es hörte sich an, als würde er vergeblich versuchen, seinen Gefährten zu beruhigen. Der Gesichtsausdruck des Zwergs blieb versteinert, sein Blick ging stur geradeaus.
»Da kommt jemand den Weg vom Düsterwald. Vielleicht hat der ihn gesehen und kann uns sagen, ob wir überhaupt die richtige Richtung einschlagen«, hörte Gäsil den Zwerg sagen, bevor der zum Wagen des Kesselflickers rannte. Gäsil zog an Bellas Zügeln, bis sie stehenblieb.
»Entschuldigt mich«, rief der Zwerg, »aber habt Ihr heute morgen unterwegs einen Kender getroffen?«
Gäsil war überrascht. »Ja, hab ich, warum? Ein hilfsbereiter, kleiner Kerl – «
»Aha!« unterbrach ihn der Zwerg und schlug sich zutiefst befriedigt mit der Faust in die Hand. Seine Augen wurden zu Schlitzen. »Wo habt Ihr die kleine Schmeißfliege getroffen?«
Der junge Elf trat vor den Zwerg. »Mein Freund meint: Seid Ihr über die neue Straße von Süden oder auf der Haven-Straße von Norden gekommen?«
Gäsil verwirrte die Feindseligkeit des Zwergs ein wenig. »Nun, ich habe ihn vor etwa zwei Stunden auf der Südstraße getroffen, aber ich glaube kaum, daß das der Kender ist, den ihr sucht. Der, den ich kennengelernt habe, war ein fröhlicher, kleiner Kerl in blauen Hosen. Sein Name war Tulpan oder Tolpatsch oder so.«
»Das ist er!« rief der Zwerg aus, packte den Elfen am Arm und begann zu rennen. »Komm schon, Tanis, wir verlieren nur Zeit!«
»Danke für Eure Hilfe, Sir«, konnte der Elf noch rufen, bevor er hinter dem Zwerg hergezogen wurde.
»Gern geschehen«, sagte Gäsil automatisch, obwohl die beiden bereits außer Hörweite waren. Er schüttelte seinen zotteligen Kopf. Was hatte der nette Kender wohl getan, womit er so viel Ärger verursachte? Mit einem neuen, scharfen Ruck an den Zügeln setzte er Bella wieder in Bewegung. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Jetzt mußte er schleunigst diesen Freund des Kenders, Flint Feuerschmied, ausfindig machen, das Armband zurückgeben und ihm – hoffentlich – eine Ecke von seinem Stand abbetteln oder abkaufen.»Doch, Flint Feuerschmied, den kenn ich, aber den habt Ihr knapp verpaßt«, erzählte der Wirt im Gasthaus »Zur Letzten Bleibe« Gäsil eine halbe Stunde später. »Er und Tanis sind vor über einer Stunde hier aufgebrochen.« Der Gastwirt mit dem Namen Otik war gerade mit zwei Tellern Bratkartoffeln und Würstchen auf dem Unterarm durch die Schwingtür zur Küche gekommen. »Ihr gestattet?« fragte er, während er mit dem Kopf von den Tellern zu den wartenden Gästen nickte.
»Oh, natürlich«, erwiderte Gäsil. Er setzte sich nachdenklich auf einen Hocker, um die Rückkehr des Wirts abzuwarten und solange über Otiks Bemerkung nachzugrübeln. Tanis… wo hatte er diesen Namen schon gehört?
»So, wie war Eure Frage?« meinte Otik, als er mit leeren Händen wiederkam, die er an seiner schmutzigweißen Schürze abwischte, ehe er sich hinter den Schanktisch stellte.
»Flint Feuerschmied. Ihr sagt, er wäre fortgegangen. Kann ich ihn auf dem Markt finden?«
Otik lachte. »Schon möglich, aber ich zweifle daran. Er und Tanis waren einem Kender auf der Spur, der Flint ein wertvolles Armband gestohlen hat.«
Gäsil staunte. Er erinnerte sich an den Zwerg und den Elfen auf der Brücke. Da hatte er den Namen Tanis gehört! Aber der Zwerg war nicht beim Namen genannt worden. Wie hätte er ihn also erkennen sollen? Der Kender hatte nicht erwähnt, daß der Zwerg einen Freund dabei haben würde, und dann auch noch einen Elfen.
»Stimmt etwas nicht?« fragte der Wirt, der die Überraschung auf dem Gesicht des Kesselflickers bemerkte.
Gäsil legte seine knorrige Hand auf seine Hosentasche und schloß die Finger um das Armband. »Ich habe – « Aber der Kesselflicker brach ab. Zuerst hatte er dem Wirt das Armband geben wollen, damit der es Flint zurückgab, wenn der Zwerg das nächste Mal ins Gasthaus kam, doch dann überlegte er es sich noch einmal. »Ihr sagt, Flint hat die Stadt verlassen und braucht seinen Stand auf dem Markt nicht mehr?«
»Nicht, bis er den Kender gefunden hat. Und das Fest geht nur noch ein paar Tage.«
»Verstehe.« Gäsil begriff bereits die Lage. Wenn der Zwerg sowieso nicht in der Stadt war und verkaufen konnte, würde sein Stand leerstehen. Gäsil konnte ihn ausleihen, und es würde niemandem schaden. Vielleicht würde es Ärger geben, falls der Zwerg den Kender einholte, vor Ende des Festes zurückkehrte und entdeckte, daß ein Fremder seinen Platz benutzte. Gäsil war es nicht so vorgekommen, als wenn Flint Feuerschmied zu den großzügigsten Zeitgenossen gehörte.
Andererseits konnte Gäsil behaupten, daß er am Stand gewartet hatte, weil er das Armband seinem rechtmäßigen Besitzer, dem Zwerg, zurückgeben wollte. Wenn er beim Warten ein paar Geschäfte machte, damit er seine Auslagen bezahlen konnte, würde ihm das niemand zum Vorwurf machen. Wenn das Fest zu Ende ging, bevor der Zwerg zurückkam, nun, dann konnte Gäsil das Armband dem Wirt übergeben und verschwinden. Das war nicht unehrlich, fand er, nur Geschäftsdenken.
»Ich habe einiges zu tun, Freund. Kann ich noch etwas für Euch tun?« unterbrach Otiks milde Stimme Gäsils Gedankengang.
»Danke«, sagte der Kesselflicker, der abrupt in die Gegenwart zurückgerissen wurde. Verlegen kratzte er sich die schlammverkrustete Haut. »Ehrlich gesagt, könnte ich ein Bad vertragen, bevor ich zum Markt gehe. Habt Ihr hier vielleicht einen Zuber?«Ein rosig geschrubbter Gäsil trat eine Stunde später aus dem Gasthaus und wanderte die Wendeltreppe zum Boden hinunter. Seine Haare waren frisch gewaschen und die Reisekleider in seiner Hand wieder sauber und bereit, zum Trocknen aufgehängt zu werden. Er hatte seine beste Tunika und die beste Hose an – nicht zu einfach, damit seine Kunden ihn nicht für einen Neuling in seinem Geschäft hielten, aber auch nicht zu auffällig, damit er nicht zu teuer wirkte. Das Armband des Zwergs hatte er aus der Hose genommen, bevor er sie gewaschen hatte, und zur sicheren Aufbewahrung in die Tasche seiner sauberen Hosen gesteckt.
Der Kesselflicker ging die paar Schritte zum Stall, wo er Bella und den Wagen den Händen eines jungen Stallburschen überlassen hatte, eines gut genährten, rothaarigen Jungen von dreizehn Jahren. Nachdem er eine Stahlmünze für Bellas Futter und Pflege bezahlt hatte, kletterte er auf den Kutschbock und beugte sich durch die kleine Öffnung in der Vorderseite ins Innere, um seine Kleider innen aufzuhängen. Ein kurzer Blick verriet ihm, daß nichts fehlte – der Junge hatte seine Sache gut gemacht.