Die Münze blinzelte den bedrängten Mann an. »Unser Handel betrifft dein Leben, dich ganz wiederherzustellen, davon war keine Rede. Aber wenn es das ist, was du willst, dann können wir unsere Abmachung bestimmt noch einmal überdenken. Soll ich dein Auge und deinen Daumen ersetzen?«
Mit ängstlichem Kopfschütteln lehnte der Magier ab. Als er das höhnische, mondbeschienene Gesicht auf der Münze in seiner blutigen Handfläche ansah, wußte er, daß ihm ein Pakt mit dem Herrn der Verträge erst einmal genug war.
TEIL I
1
So etwas Hübsches
Der Berghang war vom Frühlingsmatsch rutschig. Tolpan Barfuß suchte sich vorsichtig einen Weg über die trockensten Stellen, wobei er sich mit seinem gegabelten Kenderhupak abstützte. Hin und wieder hielt er an und stocherte mit dem Stock nach vorn und prüfte, wie tief die Schlammpfützen waren. Er wußte aus Erfahrung, daß der Matsch trügerisch und unangenehm war.
Vor zwei Tagen hatte er den Plan aufgegeben, sich auf dem Wagen eines Bauern oder Kaufmanns mitnehmen zu lassen. So wie die Straßen derzeit aussahen, konnten keine Wagen passieren. Aber in ein, zwei Tagen würden die Straßen wieder schön fest sein, und die Karren würden wieder losrumpeln. Bis dahin mußte er eben laufen.
Tolpan war davon überzeugt, diese Reise würde sich lohnen, trotz der nassen Füße, der verschmutzten Kleider und des wegen der Nässe des Holzes arg qualmenden abendlichen Lagerfeuers. Vor ihm lag Solace, das Dorf in den Baumkronen, und der Ort galt allgemein als sehenswert. Vor Jahrhunderten hatten die Bürger von Solace nach der großen Umwälzung Schutz vor Plünderern und umherstreifenden Monstern gesucht und waren deshalb in die riesigen Vallenholzbäume gezogen. Heute wurden in ganz Krynn staunend Beschreibungen ihrer Häuser in luftiger Höhe und der schönen Hängebrücken dazwischen verbreitet.
Als der Kender dann von einem Hügel aus das berühmte Dorf erblickte, mußte er unwillkürlich vor Staunen Luft holen. Malerisch ragten die Reetdächer aus den Wipfeln der knospenden Bäume, wie verzaubert und anheimelnd zugleich. In den blauen Nachmittagshimmel empor ringelten sich die dünnen Rauchfäden der Kochstellen.
Vor Aufregung bebte seine Brust, als summten und brummten hundert Schmetterlinge darin. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er den matschigen Weg nun hinunterhüpfen, -hopsen oder -rennen sollte, also machte er alles irgendwie abwechselnd und doch gleichzeitig; und im Nu war er in Solace.
Am Ortsrand blieb Tolpan stehen und starrte zu den Häusern hoch. Für jemanden wie ihn, der nicht einmal vier Fuß groß war, erhoben sie sich noch weiter nach oben. Staunend schossen seine Blicke von einem Baum zum anderen und nahmen jede Einzelheit wahr: Wie die Häuser an den Bäumen befestigt waren, wie viele Türen und Fenster sie jeweils hatten, in welchem Zustand sie sich befanden, welche Farbe und was für Leitern und Treppen sie hatten. Er registrierte jedoch auch, daß nicht alle Häuser in den Bäumen lagen. Eine ganze Reihe Gebäude, darunter auch der Stall des Dorfes, standen auf der Erde.
Davon war Tolpan gleichzeitig enttäuscht und entzückt. Das hatte ihm bisher noch nie jemand erzählt. Einerseits wirkte der Ort irgendwie weniger phantastisch, wenn die Pferde auf dem Boden bleiben mußten.
Andererseits aber lohnte es, sich diese Tatsache zu merken. Er grabbelte in dem Beutel herum, den er über der Schulter trug, und zog ein fest zusammengerolltes Pergament, ein kleines Glas Tinte und eine mitgenommene Feder heraus. Das Pergament war mit Kommentaren, Plänen und halb oder fast fertigen Karten jeder Größe und Lage bedeckt. Tolpan suchte sich rasch eine noch leere Ecke, wo er ein paar wichtige Beobachtungen hinkritzelte und einen kleinen Plan von der Gegend zeichnete. Nachdem er die Sachen wieder im Beutel verstaut hatte, betrat er das Dorf.
Die Ruhe war überaus wohltuend. Die jungen Frühlingsblätter der Vallenholzbäume raschelten im leichten Wind, während kleine Insekten summten und zirpten. Keine schreienden Esel, keine kreischenden Kinder, keine polternden Wagen. Eigentlich schien überhaupt niemand dazusein.
Plötzlich kniff Tolpan die Augen zusammen und sah sich blitzschnell argwöhnisch um. Seit seiner Ankunft hatte er noch keinen einzigen Menschen gesehen. Da stimmte doch etwas nicht. Im Kopf ging er fieberhaft alle Möglichkeiten durch. Die Leute konnten von Schuppenmonstern, die sich bei Nacht in die Stadt geschlichen hatten, gefressen oder von Sklavenhändlern verschleppt worden sein. Vielleicht waren einfach alle fortgezogen, oder vielleicht waren sie von Riesenziegenmelkern entführt worden. Bei diesem Gedanken lief ihm ein Schauer über den Rücken, und er warf nervös einen Blick über die Schulter.
Fest entschlossen, die Antwort herauszufinden, wählte Tolpan einen nahen Baum aus und stieg die steile Wendeltreppe um den Stamm hinauf. Der Baum trug ein gemütlich aussehendes Häuschen und einen kleinen Schuppen, beides durch Hängebrücken verbunden. Er spähte durch das verrußte Fenster des Hauses, konnte aber im dunklen Inneren wenig erkennen. Ein Klopfen an der Vordertür wurde nicht beantwortet, so daß er die Klinke ausprobierte – verschlossen. Aus einer seiner vielen Taschen holte Tolpan ein Öltuch, in das eine erstaunliche Sammlung unterschiedlich gebogener Drähte, Feilen und Schlüssel jeder Art eingeschlagen war. Seine Nase berührte beinahe die Tür, als er mehrere nachdenkliche Momente lang durch das Schlüsselloch spähte, um dann einen Dietrich auszuwählen. Er wollte ihn gerade in das Loch stecken, als er unten ein Geräusch hörte.
Tolpan sah nach unten und entdeckte eine Gruppe Leute mit Körben, die sich lachend unterhielten, während sie die Hauptstraße entlangliefen. Kurz darauf bogen sie in eine kleinere Straße ab und waren dann nicht mehr zu sehen.
So plötzlich, wie es aufgetaucht war, war das Öltuchbündel wieder verschwunden, und Tolpan raste nach unten.
»He, wartet auf mich!« rief er, aber sie waren schon außer Hörweite. Mit seinen kurzen Beinen fegte der Kender die Straße hinunter, um den Korbträgern zu folgen. Er flitzte um eine Ecke und dann einen kleinen Hang hoch, wo er schliddernd zum Halten kam.
Hinter der kleinen Anhöhe, auf der Tolpan jetzt stand, war ein Jahrmarkt! Der Platz war voller Verkaufsstände, Zelte, Artisten, Bettler und überhaupt voller Leute. Jede Menge Leute – bestimmt ganz Solace und wahrscheinlich noch ein paar mehr, überlegte Tolpan.
Er eilte den Hang hinunter und tauchte in die Menge ein. Auf allen Seiten hörte er Händler lautstark ihre Waren und ihre Dienste anpreisen. Mit großen Augen sah der Kender hierhin und dorthin und wieder zurück. Er umrundete einen Esel, als wie aus dem Nichts zwei Männer mit einem eingerollten Teppich auf den Schultern auftauchten. Tolpan schlüpfte zwischen sie und sicherte sich damit einen kleinen Freiraum. Er reckte den Kopf nach rechts und links, nach vorne und hinten, blickte hin und her und versuchte vergeblich, alles auf einmal zu sehen. Eigentlich konnte er sogar nur sehr wenig sehen außer vorbeilaufenden Körpern und Armen, die schubsten, zeigten, schleppten, sich berührten, kauften und verkauften.
Ein drängender Warnschrei ertönte von hinten, und Tolpan konnte gerade noch einem riesigen Faß ausweichen, bevor es vorbeidonnerte. Das Ungetüm trieb eine Rinne in den Matsch und überzog Tolpans Hose mit braunem Wasser. Zwei erschrockene Männer jagten verzweifelt dem Faß nach; der eine warnte die Umherstehenden mit lauten Rufen, während der andere unablässig Flüche ausstieß. Tolpan verfolgte kichernd, wie das Faß weiterrollte, wie die Leute sich durch rasche Sprünge in Sicherheit brachten und wie sie aus dem Weg hasteten. Das Schauspiel hatte ein Ende, als der Ausbrecher in den Stand eines Tischlers knallte, woraufhin sich ein bunter Baldachin über die Verwüstung legte.
Die Menge kehrte bald zu ihren eigentlichen Geschäften zurück. Als Tolpan sich wieder dem Fest zuwandte, schoß ein stechender Schmerz durch sein Bein. Er unterdrückte ein Jaulen und boxte dann schnell dem bulligen Mann in dem langen Leinenmantel, der auf Tolpans Fuß stand, in die Seite. Ob der Stoß dem Mann wirklich weh getan hatte, war schwer zu sagen; jedenfalls erregte er seine Aufmerksamkeit. Sein Kopf fuhr zur Seite, und er suchte finster die Menge ab, doch es dauerte mehrere Momente, bis er den kleinen Kender vor seinem Bauch entdeckte. Der Mann knurrte ihn aus tiefer Brust an. Er legte Tolpan eine Hand auf die linke Schulter, hob den Fuß und versetzte ihm einen kräftigen Schubs, der den unglücklichen Kender mitten durch die Menge fliegen ließ.