Im Wagen zog er sich gerade die Stiefel aus, als er ein inzwischen schon bekanntes, warmes Gefühl auf der Haut unter dem Armband wahrnahm. Zu beschwipst, um sich zu konzentrieren, und zu müde, um sich darum zu kümmern, machte er einfach die Augen fest zu. Doch die flogen wieder auf, als er fühlte, wie das Kupferarmband von seinem schlaffen Handgelenk gezogen wurde. Er fuhr entsetzt hoch, woraufhin er merkte, daß etwas Hartes heftig auf seinem Schädel landete, und er wußte nicht genau, ob das jetzt Vision oder Wirklichkeit war. Dann war alles dunkel.
»Erstaunlich«, sagte Sir Delbridge Fidington neben Gäsils zusammengesunkenem Körper. »Ich bin vielleicht kein guter Erzähler, aber im Stehlen scheine ich recht gut zu sein.«
6
Die Dame wartet
Ehrlich, Flint, ist nicht meine Schuld«, sagte Tolpan, während er den Weg entlanghüpfte, um mit dem raschen Tempo mitzuhalten, das der wütende Hügelzwerg einschlug. Selbst Tanis mußte große Schritte machen, um mit Flint mitzuhalten, als sie gegen Ende der Nacht vorwärts eilten.
»Es ist alles deine Schuld, Kender!« knurrte der Zwerg. »Wenn du das Armband bloß gar nicht angefaßt hättest, müßten wir uns jetzt nicht mitten in der Nacht so abhetzen!«
»Aber ich hab dir doch gesagt, ich weiß nicht, wie das Armband beim zweiten Mal in meine Tasche geraten ist. Und ich habe versucht, es zurückzuschicken… Warum hätte ich es sonst dem Kesselflicker geben sollen? Du mußt mir das wirklich glauben, Flint.«
»Ich muß überhaupt nichts, ich will nur mein Armband zurückhaben«, sagte der Zwerg, der dem Kender seine dicke Nase zuwandte. »Und nenn mich nicht mehr Flint, das hört sich an, als ob wir Freunde wären.«
»Wie soll ich dich denn dann nennen?« fragte der Kender unschuldig.
»Am besten sagst du überhaupt nichts mehr! Laß mich einfach in Ruhe!«
»Du bist schrecklich reizbar. Wahrscheinlich bist du nur müde vom vielen Gehen, kein Wunder bei deinen kurzen, dicken Beinen«, sagte Tolpan. »Wo wir gerade durch den Wald rennen, mein Onkel Fallenspringer hat immer Wildgänse gejagt – wegen ihrer Federn nämlich. Doch, das stimmt. Gänsefedern waren bei den Reichen in Kenderheim heiß begehrt. Männer wie Frauen wollten sie in den Haaren haben oder in ihre Kissen stopfen. Onkel Fallenspringer hat da echt gut Geld verdient. Hat er dann alles für die Reise zum Mond ausgegeben. Einmal bin ich fast selbst auf dem Mond gelandet, mit einem magischen Teleportationsring – «
»Hör auf mit deinem verdammten Gequatsche!« schrie Flint und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
Tanis kämpfte mit dem Lachen. »Du warst doch derjenige, der darauf bestanden hat, daß er uns begleitet, nachdem wir ihn im Windtal gefunden hatten.«
»Als Geisel, nicht als Folterknecht! Ich wollte ihn mitnehmen, falls es gelogen ist, daß er dem Kesselflicker das verdammte Armband gegeben hat.« Flint kniff verärgert die Augen zusammen. »Sag mal, werden Geiseln nicht normalerweise gefesselt und geknebelt?«
»Ja, aber dann mußt du ihn tragen«, lachte Tanis und zeigte dann geradeaus. »Außerdem ist da vorne die Brücke über den Solacer Bach. Wir sind gleich in der Stadt, und dann werden wir auch bald diesen Kesselflicker finden, und du bekommst dein Armband zurück.«
»Ich hoffe bloß, daß Selana noch nicht gekommen ist, um es abzuholen«, murmelte Flint.
»Wenn ja, dann sag ich ihr, daß wirklich keiner schuld war, aber daß es irgendwie – «
Flint fuhr zu dem Kender herum und packte ihn am Kragen seiner Pelzweste. »Erzähl ihr nur ein Wort davon«, drohte er, »und ich schneide dir die Zunge raus, brate sie und lasse dich davon essen!« Dann ließ er Tolpans Weste los und setzte seinen Marsch fort.
»Na gut«, schniefte Tolpan, der Flint einen beleidigten Blick zuwarf. Er zupfte seine Kleider zurecht, während er dem Zwerg hinterhertrottete. »Das ist wirklich nicht nett von dir. Ich wollte doch bloß helfen.«
Tanis klopfte dem Kender auf die Schulter. »Ich glaube, Flint findet, daß du ihm für dieses Leben genug geholfen hast, Tolpan.«
Flint schnaubte nur.
Gerade als der dünne Schimmer des Tagesanbruchs im Osten sichtbar wurde, erreichten sie den Südrand von Solace. Tanis war dafür, daß sie erst nach Hause gehen sollten, um sich nach einem Tag auf der Straße erst einmal frischzumachen. Ein leichter Stoppelbart, wie er keinem Elfen wuchs, bedeckte seine Wangen – ein Erbstück von seinem menschlichen Vater. Flint wollte nichts davon hören.
»Du kannst dich noch den ganzen Tag waschen und umziehen, nachdem ich mein Armband wiederhabe.« Wenn der Kesselflicker Flints Stand benutzte, wie der Kender angedeutet hatte, dann hatte er die Nacht wahrscheinlich dort in seinem Karren verbracht wie die meisten Händler von auswärts, überlegte Flint. Er führte den Kender und den Halbelfen zum Festplatz am Westrand der Stadt. Ein paar Leute waren schon auf und liefen herum, um Wasser zu holen und Feuer fürs Frühstück anzuzünden. Flint ignorierte sie und marschierte mit den anderen im Schlepptau geradewegs zu seinem Stand.
»Er war wirklich hier«, sagte der Zwerg, dem das Schild über den Brettern und etwas Werkzeug innerhalb des von Vorhängen verdeckten Raums auffielen. Flint bahnte sich seinen Weg durch die Vorhänge, kam dahinter heraus und sah gleich den Wagen des Kesselflickers.
»Das ist er! Das ist Bella!« krähte Tolpan, als er sich durch die Vorhänge und an Flint vorbeigeschoben hatte. Das Pferd war an einem der Haltepfosten des Stands festgebunden.
Entschlossen stapfte Flint zu der Tür hinten am Wagen. Tanis erwischte ihn am Gürtel und riß ihn zurück.
»Du kannst nicht einfach früh am Morgen bei einem schlafenden Mann hereinplatzen und wie ein Trampel dein Armband zurückfordern«, mahnte der Halbelf.
»Wieso denn nicht?« wollte Flint mit zusammengekniffenen Äuglein wissen. »Es ist mein Armband, und ich will es wiederhaben, und er schläft in meinem Stand, und den will ich auch wiederhaben.«
»Na schön«, sagte Tanis, der allen Punkten zustimmen mußte, »aber versuch wenigstens, höflich zu ihm zu sein. Es ist nicht seine Schuld, daß er das Armband hat.« Zwei Augenpaare, das eine wütend, das andere leicht amüsiert, wandten sich dem Kender zu.
Da er merkte, daß das Gespräch eine unangenehme Wendung nahm, tanzte Tolpan zur Wagentür. »Mich kennt er. Ich geh als erster. Bestimmt ist abgeschlossen, darum werde ich einfach – « Die meisten Leute hätten jetzt »klopfen« gesagt, aber Tolpan wollte gerade sagen, »das Schloß knacken«, als er merkte, daß die Tür bereits offenstand.
»Das ist aber komisch«, sagte Tolpan leise. »Man sollte doch vermuten, daß er vorsichtiger ist. Ich will ja nicht unfair sein, aber Jahrmarktsbeschicker zählen doch allgemein nicht zu den vertrauenswürdigsten Leuten.«
»Da haben sie immerhin etwas mit Kendern gemeinsam«, murmelte Flint. Tolpan blickte ihn grimmig an. »Aber du hast recht, irgend etwas scheint hier nicht zu stimmen.« Stirnrunzelnd kletterte Flint die zwei Latten hinauf, die als Stufen dienten, schob den Kender mit dem Ellbogen beiseite und stieß vorsichtig die Tür auf. Tolpan schluckte, als er unter Flints Arm durchspähte.
Der schlaksige Kesselflicker lag zwischen seinem Werkzeug auf dem Boden, und sein Kopf und der Boden um ihn herum waren mit Blut verschmiert. Der Zwerg stieg durch die Tür und ließ sich auf ein Knie nieder, um dem Menschen den Puls zu fühlen.
»Ist er tot?« fragten Tolpan und Tanis gleichzeitig.
Ein ziemlich starkes Pochen war unter den zwei Fingern zu spüren, die Flint an das Handgelenk des Mannes drückte. »Nein, zum Glück nicht. Sieht wahrscheinlich schlimmer aus, als es ist. Kender, geh und hol Wasser«, befahl er, ohne aufzusehen. Tolpan schnappte sich einen Kupfertopf von einem Haken an der Wand und rannte davon, und ausnahmsweise stellte er keine weiteren Fragen.