Tanis fand ein einigermaßen sauberes Tuch, das er in Streifen riß, während Flint den Kopf des Kesselflickers in seinen Schoß legte und vorsichtig die Wunde untersuchte. »Die Beule ist so groß wie ein Harpyienei.« Der Mann stöhnte und bewegte sich, als Flint die Wunde behutsam abtastete.
Die blutunterlaufenen Augen des Mannes öffneten sich flatternd, und er blickte verwirrt in Flints rotwangiges Gesicht. »Kenne ich dich nicht?… Doch… Was machst denn du in meinem Wagen?« Mit einem Jammerlaut hob er die Hand zu der Beule an seinem Kopf und erschauerte, als er das Blut sah. »Gütiger Himmel, ich komme mir vor wie eine Wurst. Was ist denn passiert?«
»Wir hatten gehofft, daß du uns das sagen könntest«, meinte Tanis. Er reichte Flint einen Tuchstreifen und wischte mit dem anderen das Blut vom Boden auf.
»Ich bin mir nicht sicher… wartet… Das letzte, woran ich mich erinnerte, ist das Bierzelt. Ich hatte etwas zu feiern… hab zuviel von diesem üblen Gebräu getrunken…« Er massierte sich die Schläfen. »Genau! Ich hatte den ganzen Tag so gute Geschäfte gemacht wegen… dem Armband.«
»Wegen des Armbands sind wir hier«, warf Flint ein. »Wo ist es?«
»Ach ja, der Kender…« Immer noch benommen, schüttelte Gäsil seinen schwimmenden Kopf, um dann bei dem pochenden Schmerz aufzustöhnen. »Ich hätte es dir auf der Brücke gegeben, wenn ich gewußt hätte, wer du bist… Es ist hier an meinem Handgelenk, sicher aufbewahrt.« Gäsil griff an seinen rechten Arm, woraufhin er seine Augen erst vor Verwirrung und dann vor Besorgnis weit aufriß. »Ja, was denn, es war genau hier!«
Flint kniff die Augen zusammen. »Wo ist es?« Er tastete selbst beide Arme von Gäsil ab. »Du lügst mich an!«
»Langsam, Flint«, sagte Tanis beruhigend. »Er scheint ehrlich überrascht zu sein.«
»Das bin ich! Ich schwöre es!« Plötzlich veränderte sich Gäsils Gesichtsausdruck. »Jetzt erinnere ich mich! Der Barde! Der war’s! Er ist gestern abend hergekommen. Der muß mich auf den Kopf geschlagen und das Armband gestohlen haben.«
»Und warum sollte jemand auf diese Art ein kleines Kupferarmband klauen? Hier drin gibt es doch bestimmt Wertvolleres«, meinte Flint wenig überzeugt.
Gäsil sah ihn verächtlich an. »Glaubst du etwa, ich hätte etwas Wertvolleres als ein Armband mit magischen Kräften? Sieh dich doch um. Alles, was du siehst, ist genau das, wonach es aussieht.«
»Was für Kräfte?« wollte Flint wissen. »Dieses Armband hat keine magischen Kräfte. Was redest du denn da?«
Gäsil richtete sich mühsam aus Flints Schoß auf und setzte sich hin. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich es erklären soll. Plötzlich und ohne Vorwarnung wird es warm – fast heiß –, und dann weiß man auf einmal etwas, als wenn es einem gerade eingefallen wäre. Man hat es bloß vorher nicht gewußt, weil es nämlich noch gar nicht passiert ist! Es ist ganz komisch.«
»Du meinst, man halluziniert?« fragte Tanis verwirrt.
Gäsil schüttelte den Kopf. »Nein… oder vielleicht so ähnlich. Ich meine, es ist wie eine Erinnerung, nur weiß man, daß es etwas ganz Neues ist. Manchmal ist es wie eine Vision, die man im Geiste wahrnimmt. Manchmal ist es lang, dann wieder nur ein einfaches Bild oder ein Gedanke. Aber was es auch ist, kurz nachdem man es gesehen hat, passiert es auch.«
»Das Armband, das ich gemacht habe, kann die Zukunft vorhersagen? Pah!« Flint rümpfte die Nase. Angesichts eines so lächerlichen Gedankens verdrehte er die Augen.
»Doch, bestimmt«, rief Tolpan von der Tür her. Er war mit Wasser zurückgekehrt und am Eingang zum Zuhören stehengeblieben. »Hei, Gäsil. Das mit deinem Kopf tut mir aber leid. Aber mir ist das gleiche passiert – in die Zukunft sehen, meine ich. Einmal sah ich eine Spinne in meinem Sack, bevor ich ihn überhaupt aufgemacht hatte. Das war wirklich praktisch. Und dann war da dieser häßliche kleine Zwischenfall mit den Hobgoblins…« Rasch erzählte Tolpan Tanis und Flint, was geschehen war, als er vor seiner Begegnung mit dem Kesselflicker das Armband getragen hatte.
Flint war immer noch skeptisch. »Du bist der letzte, dem ich einen solchen Unsinn glauben würde, Kender.«
»Moment mal, Flint«, sagte Tanis wieder, während er sich am Kinn kratzte. »Hast du nicht gesagt, diese Frau – Selana – hätte dir bestimmte Zutaten und Bestandteile gegeben, die du in das Metall einschmelzen solltest? Dinge, die dir völlig unbekannt waren? Du hast selbst gesagt, daß sie sehr geheimnisvoll getan hat und über sich selbst nichts verraten hat. Das würde erklären, warum sie so großzügig gezahlt hat.«
Flint konnte das Offensichtliche nicht länger leugnen. Er setzte sich hin und stützte den Kopf in beide Hände. »Was mach ich jetzt? Es war schon schlimm genug, als ich dachte, ich hätte ein gewöhnliches Armband verloren. Aber wenn das Ding das kann, was ihr von ihm behauptet, dann wird sich Selana noch mehr über seinen Verlust aufregen.«
»Eine Frau, sagst du?« fragte Gäsil. »Eine merkwürdige Frau mit blasser Haut und unwahrscheinlich blaugrünen Augen hat gestern am Stand nach dir gefragt. Sie schien ganz verstört, als ich ihr sagte, daß du fort wärst.«
»Oh, Götter, das ist sie!« stöhnte Flint und raufte sich die grauen Haare. »Ich muß dieses Armband einfach wiederbekommen, bevor sie mich findet!« Er fuhr zu Gäsil herum. »Hat sie gesagt, wo sie abgestiegen ist? Ob sie zurückkommen würde? Sah sie verärgert aus?«
»Denk nicht an sie«, sagte Tanis. »Wie willst du denn das Armband finden, wenn es von jemandem gestohlen wurde, den wir nicht einmal verfolgen können, weil wir ihn gar nicht kennen?«
»Ich bin sicher, daß es der Barde war«, beharrte Gäsil. »Und ich fürchte, ich bin da selber schuld.« Mit schamrotem Gesicht berichtete der Kesselflicker alles, was ihm noch von seiner Unterhaltung mit dem Erzähler einfiel, und auch, wie der aussah.
»Es kann doch nicht schwer sein, jemanden zu finden, der den Namen Delbridge Fidington trägt«, staunte Tolpan.
»Es ist fast unmöglich«, jammerte Flint, »wenn wir nicht wissen, welche Richtung er eingeschlagen hat. Außerdem ist so ein merkwürdiger Name bestimmt nicht sein richtiger.« Der Zwerg lief in dem engen Verschlag hin und her, wobei seine schweren Schritte den Wagen erzittern und die Pfannen und Werkzeuge an den Wänden klappern ließen.
»Ich habe vielleicht eine vage Idee, wo er hin wollte«, sagte Gäsil. Alle Blicke richteten sich auf ihn, und er fuhr fort: »Bevor ich ihm gegenüber das Armband erwähnte, hat er mir erzählt, wie schwer es ist, als Barde anständige Arbeit zu finden. Dann sagte er, daß er nach Norden wollte, um etwas zu finden, wo er nicht vor schlecht zahlendem ›Pöbel‹ auftreten müßte.«
»Das war’s also«, verkündete Flint. »Wir gehen nach Norden. Und wenn ich dieses diebische Stinktier finde, dann schlag ich ihm den Kopf ab.«
Tanis ergriff den Zwerg am Arm, bevor der durch die Tür rennen konnte. »Wir können nicht einfach so loslaufen. Weißt du überhaupt, wo du hin willst und wie du dahin kommst?«
»Ich gehe nach Norden«, fauchte der Zwerg, »und da komm ich hin, indem ich einen Fuß vor den anderen setze, nicht indem ich hier rumsitze.«
Tanis versuchte, vernünftig mit seinem Freund zu reden. »Flint, diese Reise wird mehrere Tage dauern, vielleicht sogar länger. Wir können nicht einfach so losrennen. Wir waren die ganze Nacht auf den Beinen, wir haben noch nichts gegessen, und wir haben überhaupt keine Vorräte.«
Flint schlug mit der Faust gegen den Türrahmen des Wagens. »Ich kann hier nicht bloß herumsitzen, Tanis. Die Sache war vorher schon wichtig, und jetzt ist sie es um so mehr, weil wir wissen, daß Zauberei im Spiel ist.« Er erschauerte bei diesem Gedanken – Zwerge mißtrauen von Natur aus jedweder Magie. »Denk dran«, meinte er mit einem Blick aus den Augenwinkeln, »ich habe ein paar spezielle Ausdrücke für Kunden, die versehentlich vergessen, solche Dinge zu erwähnen.«