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Die Bäume saßen voller Knospen. Kleine, grüne Blätter sprossen aus den Ästen, die vom Winter noch kahl und grau waren. Die Vorberge zum Ostwall-Gebirge waren überwiegend mit weiß-rosa Holzapfelbäumen und Pflaumenbäumen, die schon in voller Blüte standen, bepflanzt. Ihre flauschig wirkenden Äste kratzten an den Seiten des Holzkarrens, der über den schmalen Pfad rumpelte, und duftende Blütenblätter in vielen Farben rieselten auf Delbridge und die Rübensäcke herunter.

Für ländliche Idylle war Delbridge nicht zu haben. Eingelullt von der warmen Frühlingssonne auf seinem Gesicht und dem Schwanken und Holpern des Wagens auf dem unebenen Weg, lehnte sich der zum Wahrsager gewordene Barde in die schmutzigen Säcke zurück und schlief ein.

Einige Zeit später wurde er unsanft geweckt, als die harten Räder gegen einen besonders großen Stein auf der Straße stießen, wodurch der Karren noch mehr als sonst holperte. Delbridge fuhr herum, um nach vorne zu starren, konnte aber nur den Hinterkopf des Bauern sehen. Mit Mühe kniete er sich zwischen den Säcken hin.

Sie hatten die Vorberge hinter sich gelassen und waren mitten im Gebirge. Unter ihnen schmiegte sich ein Ort ungefähr von der Größe von Solace in einem kleinen Tal schon in die Schatten der umliegenden Berge. Obwohl es noch nicht dunkel war, blinkten schon Laternen durch die Bäume, und der Wind trug den Geruch von Rauch von den Herdfeuern heran. Ein schneller, kalter Fluß kam von Westen herunter, wo die höchsten Berge dieser Kette lagen.

Und dort erhob sich majestätisch auf einem Felsen hinter dem Fluß ein imposantes Schloß, dessen hohe Mauern, Türme und Verteidigungsanlagen im schwindenden Licht tiefrot leuchteten.

»Was ist denn das?« rief Delbridge dem Bauern zu, der die Pferde auf dem Weg in Serpentinen ins Tal hinunter lenkte.

»Burg Tantallon.«

Delbridge war wie gebannt. »Wer wohnt dort?«

»Es heißt«, sagte der Bauer, der Lust zum Schwatzen bekam, »daß sie einem Ritter von Solamnia gehört, dessen Familie – wenn man den Geschichten glauben darf, die so erzählt werden – Solamnia im Norden kurz nach der Umwälzung verlassen hat, als die Ritterverfolgung losging.

Unsere Provinz, Abanasinia, war damals, wie du vielleicht noch aus dem Geschichtsunterricht weißt, ebenfalls im Aufruhr. Als dann der Vorfahre des heutigen Ritters und seine Begleiter hier ankamen, brachten sie ein bißchen Recht und Gesetz mit. Die Überlebenden der Umwälzung, die sie vorfanden, waren gut organisiert, so daß die Familie und alle, die ihr dienten, gut zurechtkamen. Selbst in harten Zeiten konnte das Familienvermögen zusammengehalten werden.«

Der Bauer strahlte vor Stolz auf die Geschichte seiner Heimat. »Die Curstons leben seitdem ohne Zwischenfälle in dem Kastell über der Stadt, das der erste Lord Curston vor über dreihundert Jahren erbauen ließ.«

Als sie jetzt in die Stadt einfuhren, war Delbridge überrascht, wie ein dermaßen abgelegener Flecken so wohlhabend sein konnte. Die Straßen waren kunstvoll gepflastert, und kein Stück Unrat lag herum. Die Häuser waren weiß gekalkt, die Steine fest gemauert und die Strohdächer dick und in gutem Zustand. Nur die wenigsten Geschäfte und Häuser hatten Ölpapier vor den Fenstern – teures – farbiges oder farbloses – Glas war die Regel. Es sah aus wie im Märchen. So viel Wohlstand konnte nur ein gutes Omen sein, fand Delbridge.

Unvermittelt kam der Wagen am Südrand der Stadt vor einem einladend wirkenden Gasthaus zum Halten, dessen Schild es als den »Wilden Eber« auswies: Ein großer, schnaubender Eber durchbrach ein Gatter, während ein Mann friedlich auf seinem Rücken schlummerte. Frisch bepflanzte Blumenkästen schmückten die beiden Fenster, deren Innenseiten von gerafften, weißen Vorhängen eingerahmt wurden.

»Endstation«, rief der Bauer.

Delbridge bedankte sich und sprang vom Wagen, um einen Blick auf das Gasthaus zu werfen. An diesem Ort konnte man sicher herausfinden, was in Tantallon so los war, und Delbridge brauchte zudem etwas zu essen und einen Schlafplatz. Aber während die Leute Informationen oft bereitwillig preisgaben, kosteten Essen und Unterkunft Geld.

Es war auch ein guter Ort, um das Armband auszuprobieren, fand er, was er auf jeden Fall tun mußte, bevor er Geld in eine neue Ausstattung investierte. Er griff in seinen abgenutzten Beutel und zog das Armband heraus. Dann preßte er seine Hand zusammen und quetschte sich das dünne Kupferband mit viel Kraft über die Finger aufs Handgelenk. »Für wen war denn das bestimmt, für einen Feenkobold?« knurrte er, da es in sein weiches Fleisch einschnitt. Er brauchte sich keine Sorgen machen, daß er es verlieren könnte, denn er bezweifelte, es je wieder von seinem Handgelenk abziehen zu können.

Als er die Tür aufmachte, blieb er stehen, um ein offenbar noch nicht sehr altes Stück Pergament anzusehen, das an die Tür genagelt war. Es war eine öffentliche Bekanntmachung. Delbridge trat näher, um sie im nachlassenden Licht zu lesen.

Audienztag

Am dritten Yurthgrün 344 wird seine Lordschaft, Sir Curston, die Anliegen, Bitten und Gesuche seiner treuen Untertanen anhören und beurteilen. Jeder, der eine Audienz bei Seiner Lordschaft wünscht, soll in den Stunden zwischen Sonnenaufgang und dem Beginn der Nachtwache vorsprechen.

»Geh mal aus der Tür raus, du rücksichtsloser Kerl. Kommst du nun oder gehst du?«

Delbridge trat erschrocken zurück. Er sah sich einem ärgerlichen Mann mit Hakennase gegenüber, der eine schneeweiße Schürze trug; offenbar der Wirt.

»Wie? Das heißt… Verzeihung, aber ich habe nur das Ding da an der Tür gelesen«, stammelte Delbridge.

Der Wirt runzelte die Stirn. »Gut, dann mach sie jetzt zu. Ich heize nicht für draußen.«

Delbridge riß sich zusammen. »Bitte um Vergebung, edler Herr.« Er richtete sich auf und strich die ausgebeulte Vorderseite seiner Samtjacke glatt, doch der Mann war bereits an seine Arbeit zurückgekehrt.

Delbridge watschelte hinein, bevor die Tür ganz zuging. Der Raum war warm und gemütlich. Rauch hing in der Luft. Acht Gäste saßen an verschiedenen Tischen. Die meisten schienen Arbeiter oder Handwerker zu sein, aber zwei waren offenbar Soldaten. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Alle acht unterbrachen ihre Gespräche und betrachteten den Neuankömmling.

Der Wirt war gerade erst hinter seinen Tresen zurückgekehrt, als er aufblickte und den Mann, den er gerade im Eingang getroffen hatte, auch schon vor sich stehen sah. Er sah zur Tür zurück, um dann Delbridge zu mustern. »Was willst du, Fremder?«

»Ganz bestimmt nichts«, erwiderte Delbridge, wobei er Überraschung heuchelte. »Ich wollte nur ein kleines Geschäft mit Euch besprechen.«

»Bei mir gibt es keine Zimmer umsonst.« Nachdem die Sache damit erledigt war, kehrte der Wirt an seine Arbeit hinter dem Tresen zurück.

Delbridge legte die Hand an die Brust. »Um Himmelswillen, ich habe noch nie etwas umsonst verlangt! Habe ich denn ›umsonst‹ gesagt? Ich glaube kaum. Nein, was ich vorschlage, ist ein ganz normales Geschäft. Ich bekomme etwas, und Ihr bekommt etwas. Wie Ihr so klug erraten habt, möchte ich nur ein Abendessen und ein Zimmer für die Nacht. Aber Ihr… bekommt meine Dienste für heute abend.«

Der Wirt rümpfte die Nase. »Und was kannst du? Warte, laß mich raten. Singen? Tanzen? Geschichten erzählen? Und dafür soll ich jemanden füttern und unterbringen, der frißt wie ein Schwein und schnarcht wie eine Belagerungsmaschine.«

Er putzte sich mit dem Saum seiner weißen Schürze die Nase. »Tut mir leid, Fremder, wir brauchen keine Unterhaltung. Warum versuchst du’s nicht im Wirtshaus ›Zur Stolpernden Gans‹ weiter unten an der Straße?«

Einige der anderen Gäste lachten bei den Grobheiten des Wirts laut los, doch Delbridge machte sich nichts daraus. Anstatt einzuschnappen, plusterte er sich so groß wie möglich auf.

»Ich bin kein gewöhnlicher Künstler. Ich bin ein Orakel. Ich sehe die Zukunft vorher und sage sie voraus.«

Allgemeines Gekicher und Gepruste ging durch den Raum. Der Wirt beugte sich dicht herüber und sagte: »Ich kann dir auch die Zukunft vorhersagen, Fremder. Ich sage, wenn du deinen dreisten, fetten Hintern nicht gleich hier rausschaffst, dann wirst du rausgeworfen.« Das Gelächter schwoll an, und Delbridge bemerkte erstmals, daß es einen wirklich unangenehmen Beiklang hatte.

Armband hin, Armband her, Delbridge wußte, daß es jetzt Zeit war, den Sprung ins Ungewisse zu wagen. In der Vergangenheit hatte diese Art Druck, wenn es ums Ganze ging, immer ausgezeichnet seine Sinne geschärft. Er schloß die Augen, legte eine Hand an die Stirn und hielt sich mit der anderen am Tresen fest. Sein Verstand richtete sich auf die Zukunft aus und suchte nach irgendeiner vagen Voraussage, die er machen und kurz darauf beweisen konnte.

Er hatte Glück, daß er eine Hand am Tresen hatte, denn sonst wäre er umgekippt, als die Bilderflut über ihn hereinbrach. So jedoch taumelte er nur zur Seite und konnte einen Sturz gerade noch verhindern, indem er sich automatisch am Tresen festklammerte.

Im Geiste sah Delbridge einen der anderen Gäste, einen schon etwas kahlen, mittelalten Herrn mit gichtigen Händen, der einen Riesenbissen gebackene Forelle in den Mund schob. Augenblicklich begann er zu husten und nach Luft zu schnappen. Seine Augen quollen hervor, die Hände fuhren zur Kehle, und seine Zunge schwoll gräßlich an, bis er Augenblicke später von der Bank auf den Boden fiel. Dort trat er um sich und wälzte sich noch ein paar Mal herum, bevor er reglos liegenblieb.

Taumeln war nicht das, was Delbridges Spötter erwartet hatten. Jetzt beobachteten sie ihn mit echter Neugier und fragten sich, was dieser offenbare Hochstapler von einem Künstler als nächstes probieren würde. Als er wieder fest stand und sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte, sah er, wie sie ihn halb belustigt, halb befremdet anstarrten.

Wenn das auf das Armband zurückzuführen war, dachte Delbridge, dann neigte der Kesselflicker, von dem er es gestohlen hatte, zu grober Untertreibung. Aber, erinnerte er sich mit Stolz, jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, eine Gelegenheit zu ergreifen, wo immer sie sich bot. Zögern war ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte.

Mit aller ihm möglichen Würde ging Delbridge zwei kühne Schritte vom Tresen weg, um dann den Arm zu erheben und auf die Gäste zu zeigen. »Ich habe gesehen, was geschehen wird. Der Tod lauert in diesem Raum und ist bereits hinter einem von euch her. Ich könnte euch sagen, wer es ist – oder ich kann meinen Mund halten und den Mann sterben lassen, weil mir sowieso keiner glaubt.« Er ließ den Arm wieder herabsinken und sah sie traurig an. »Ihr tut mir leid.«

Mehrere Zuschauer erblaßten, was Delbridge enorm befriedigte. Der Mann, der in der Vision aufgetaucht war, winkte mit dem Arm, als wolle er Delbridge verjagen und sich wieder seinem Essen widmen. Mit einer Mischung aus Frohlocken und Entsetzen sah Delbridge, daß er tatsächlich einen Teller mit gebackener Forelle vor sich hatte!

Einer der Soldaten meldete sich: »Na los, Orakel, sag uns wenigstens, wer es ist. Ich wüßte gerne, wer von uns über die Klinge springen wird, damit ich ihm vorher noch einen ausgeben kann.«

Auch ohne diese spaßige Einladung hätte Delbridge gehandelt. Als der Mann aus der Vision die Gabel mit Fisch zum Mund führte, sprang Delbridge hin und hielt ihn am Handgelenk fest. Der Gast fuhr zornig auf und versuchte, seinen Arm zu befreien. Delbridge stieß den Teller des Mannes weg und warf dann die Gabel samt Fisch auf den Tisch. Anschließend bat er den Nachbarn auf der Bank, während er innerlich inständig betete, daß das der tödliche Bissen war: »Bitte, untersuch das gründlich und sag uns, was du findest.«

Der Mann sah seine Begleiter um Unterstützung heischend an und nahm dann achselzuckend die hingeworfene Gabel, mit der er in dem Fischbrocken auf dem Tisch herumstocherte. Schon einen Moment später hatte er etwas gefunden. Mit den Fingern zog er einen Knochensplitter von der Länge seines Fingernagels heraus, der zu einer Spitze geformt und geschärft worden war. Es war das abgebrochene Stück eines selbstgemachten Angelhakens. Mit erstauntem Blick hielt ihn der Mann in der Handfläche hoch, so daß ihn jeder sehen konnte.

Der Mann, in dessen Mahlzeit der Knochenhaken gesteckt hatte, schluckte hörbar. »Ich glaube, wir brauchen kein Orakel, um zu wissen, was geschehen wäre, wenn ich das geschluckt hätte.« Die übrigen Anwesenden schwiegen. Delbridge gab sich Mühe, angemessen selbstbewußt auszusehen.

Der Mann, dem er das Leben gerettet hatte, wandte sich an den Wirt. »Shanus, ich weiß nicht, ob du diesem Mann ein Zimmer gibst, aber ich lade ihn zum Essen ein. Was willst du haben, mein Freund?«

Delbridge zögerte nicht. »Egal, bloß keinen Fisch«, erwiderte er, worauf im Raum herzlich gelacht wurde.

Als er sich nach dem Essen in seinem kostenlosen Zimmer ausruhte, fand Delbridge endlich Zeit zum Nachdenken. Er war kein besonders weiser Mann, aber er war auch nicht dumm. Daß hier Magie im Spiel war, war eindeutig, und genauso sicher wußte er, daß es der Einfluß des Armbands gewesen war. Das war wirklich das Tollste, was er je in die Finger bekommen hatte.

Er hatte keine Vorstellungen von den Fähigkeiten oder Grenzen des Armbands, aber die Möglichkeiten, es gewinnbringend zu nutzen, waren enorm. Wenn er erst einmal wußte, wie er das Ding beherrschen konnte, würde er leicht eine Vorstellung auf die Beine stellen können.

Beherrschung war allerdings ein Problem. Delbridge wußte praktisch gar nichts über Magie. Er wußte, daß ein angesehener Zauberer eine hohe Gebühr für die Untersuchung des Armbands fordern würde, und es kam gar nicht in Frage, es zu einem Zauberer von zweifelhaftem Ruf zu bringen. Also blieb ihm nichts weiter übrig, als selbst herumzuexperimentieren und seine Eigenschaften durch Versuch und Irrtum herauszufinden. Dieser Pfad erschien steinig, doch Delbridge sah zunächst keine andere Möglichkeit.

Inzwischen würde sich die Nachricht, was an diesem Abend geschehen war, wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreiten. Und was noch besser war, die beiden Soldaten, die während seiner Kostprobe in der Wirtsstube gesessen hatten, würden die Geschichte wahrscheinlich in die Garnison im Schloß tragen, wo sie vielleicht sogar dem Ritter – wie hieß er noch? Curston? – zu Ohren kommen würde.

Delbridge setzte sich auf. Daraus konnte viel mehr werden als aus einer umherziehenden Gauklerschau. Die Dienste eines fähigen Sehers wären für einen Herrscher unbezahlbar. Vielleicht würde er bei Hof angestellt werden, und dann würde Delbridge endlich bekommen, was er sich immer ersehnt hatte: Müßiggang, Ansehen, Würde und Reichtum.

Delbridge fiel der Zettel an der Wirtshaustür wieder ein. Morgen war Audienztag! Er beschloß, um eine Unterredung mit dem Ritter zu bitten und ihm seine Dienste anzubieten. Aber damit blieb ihm nur sehr wenig Zeit, das Armband zu untersuchen.

Er hatte eine lange Nacht vor sich.