Delbridges Schritte auf der Brücke wurden von dem tosenden, rasch fließenden Wasser unter ihm übertönt.
Wieder zog Delbridge seine Kleider zurecht, bevor er seine Hand einer Wache entgegenstreckte. »Omardicar, der Allwissende, Hellseher, zu Euren Diensten. Vielleicht habt Ihr schon von mir gehört?« Die Wache, die ihrem langen Schnurrbart nach dem solamnischen Orden angehörte, verzog keine Miene und sagte nichts. »Nun, also, ich möchte um eine Audienz bei Lord Curston bitten. Führt mich doch bitte zum richtigen Saal, guter Mann.«
Die Wache musterte Delbridge abschätzig, schnaubte dann zweifelnd und schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr früher gekommen wärt, hättet Ihr mit allen anderen gehen können. Hört gut zu, weil ich nichts wiederholen werde. Ihr seid jetzt am äußeren Südtor. Geht geradeaus weiter und dann durch den äußeren Burghof zum inneren Südtor. Von dort aus wird Euch jemand den Weg durch das Vorzimmer zum kleinen Burgsaal neben dem Westflügel zeigen.«
Delbridges Kopf schwirrte bei dieser komplizierten Beschreibung. »Tantallon sieht doch ganz friedlich aus. Wozu soviel Aufwand zur Verteidigung?«
»Tantallon hat Frieden, weil das Schloß gut befestigt ist und weil wir immer wachsam sind«, erklärte die Wache mit offensichtlichem Stolz. »Lord Curston will immer auf alles vorbereitet sein. Er beschäftigt viele Leute aus dem Ort, um immer wieder die Verteidigungsanlagen zu verbessern. Seine jüngste Errungenschaft, an der dreißig Handwerker gearbeitet haben, sind die Steinsoldaten auf den Zinnen. Sie stehen da, um feindliche Kundschafter glauben zu machen, daß wir eigentlich viel mehr Leute sind.«
Die Ausgaben des Ritters für die Verteidigung erklärten den Wohlstand im Ort, dachte Delbridge. Wollen wir hoffen, daß der Mann auch mir einen Teil seines Reichtums zugesteht.
»Ihr solltet Euch aber lieber sputen«, sagte die Wache mit dem Schnurrbart. »Es sind schon einige vor Euch dran.«
Delbridge dankte der Wache und ging eilig weiter. Nachdem er den äußeren Burghof durchquert hatte, erreichte er wie angewiesen das innere Torhaus, doch das war nicht besetzt.
Achselzuckend betrat Delbridge den inneren Burghof auf eigene Faust. In dem außerordentlich geräumigen Hof waren Hunderte gepflegter Marktstände, viele davon aus Holz oder Flechtwerk auf Dauer angelegt, richtig mit Strohdach und Fensterläden. Gegenüber lagen die Soldatenunterkünfte und Exerzierplätze.
Aus den großen Küchen, die das Schloß versorgten, drangen köstliche Düfte auf den Platz. Dazwischen mischten sich die Gerüche von den Ställen und den kleinen Ständen mit Lebensmitteln, so daß die Umgebung mit nichts zu vergleichen war, was Delbridge je zuvor gesehen hatte. Räudige Hunde und Kinder rannten frei zwischen den Karren in dem gepflasterten Innenhof herum, wobei sie entrüstet gackernde Hühner aufscheuchten.
Delbridge versuchte, sich an die Wegbeschreibung der Wache zu erinnern. Wenn er sich recht entsann, war der Eingang zur Burg neben dem Westflügel. Er sah nach links über die Marktstände hinweg, wo die Händler wegen der bevorstehenden Mittagspause bereits Fenster und Türen schlossen. Vor ihm im hellen Sonnenlicht lag der Wohnflügel der Burg, den er jetzt zum ersten Mal in seiner vollen Pracht betrachten konnte.
Die Burg war mindestens fünf Stockwerke hoch. An allen vier Ecken standen runde Türme, die jeweils eine Fensterreihe hatten. Schießscharten und Mauerzacken umrahmten wie auf den Außenmauern das Dach, aus dem ein ganzer Wald von Schornsteinen ragte. Vor den höheren Fenstern im zweiten Stock gab es gelegentlich einen Balkon.
Delbridge trat durch den Eingangsbogen an die geschnitzte Teakholztür und schob sie auf. Obwohl sie doppelt so hoch war wie er und vielleicht fünfmal so schwer, schwang sie an ihren gut geölten, schwarzen Eisenscharnieren leicht auf.
Auf der Stelle nahm Delbridge den vertrauten Duft wahr, den er nicht mehr gerochen hatte, seit er Burg Thelgaard verlassen hatte, ein Geruch nach Reichtum und dem Schweiß der anderen: Es war Zitronenölwachs, mit dem man gewöhnlich die Unmengen von teurem Holz polierte, die in reichen Häusern zu finden waren.
Delbridge kannte das; er hatte Stunden damit verbracht, die glitschige, beißende Paste in die Treppengeländer von Thelgaard zu reiben, wenn er seinen Aufgaben als dritter Hilfshaushofmeister nachgekommen war. Nachdem er diese Tortur hinter sich gebracht hatte, konnte er nicht einmal mehr den Duft von Bienenwachspolitur ausstehen.
Als seine Augen sich an das schwache Fackellicht gewöhnt hatten, merkte er, daß er in einer hohen Vorhalle stand, die sich über zwei Stockwerke erstreckte. Unten waren die Wände mit ausgestellten Rüstungen aller Art gesäumt, vom Lederharnisch über Kettenrüstungen bis hin zu kompletten Plattenpanzern. Darüber hingen die Wände bis zur Decke voller Waffen, und zwar so dicht, daß diese sich fast berührten (was bei diversen, zu Rosetten aufgehängten Schwertern auch der Fall war). Langschwerter, Kurzschwerter, Spieße, Speere, Hellebarden, Äxte, Bögen, Armbrüste, Dolche, Morgensterne und ein Haufen anderer Waffen, die Delbridge überhaupt nicht kannte, schmückten die Halle. Alles schien aus edlem Stahl zu sein, und wenn das stimmte, war schon das ein Zeichen, daß dieser Ritter ein Vermögen besaß. Ganz abgesehen davon, konnte er mit den ausgezeichneten Waffen in diesem Raum eine umfangreiche Armee ausrüsten. Delbridge beneidete den Mann immer mehr.
Gegenüber tauchte ein runzliges, altes Gesicht unter einem grauen Haarschopf hinter einem Vorhang aus Goldbrokat auf. Der Mann trug die Livree eines Gefolgsmanns der Curstons, auch wenn diese schlaff um seine geschrumpfte Gestalt hing. Nach einem Blick auf Delbridge schimpfte er mit altersschwacher Fistelstimme: »Ihr ganz allein? Wenn Ihr wegen der Audienz gekommen seid, dann kommt, kommt. Sie warten schon auf Euch. Sagt mal«, meinte er mit einem stirnrunzelnden Blick auf Delbridges Aufzug, »Ihr seid doch nicht zufällig dieser Wahrsager, von dem wir gehört haben?« Delbridge verneigte sich tief. »Nun, dann kommt mal mit.«
Delbridge hatte Schwierigkeiten, sich mit seiner noblen Robe angemessen würdevoll unter dem Vorhang hindurchzubewegen; auf der anderen Seite mußte er der gebückten Gestalt deshalb durch einen langen, mit glänzendem Marmor ausgelegten Gang hinterherhasten. Auch hier war die Decke zwei Stockwerke hoch, und auf kunstvollen Säulen erhob sich auf jeder Seite des Gangs eine Galerie. Hinter den Säulen lagen auf jeder Seite in gleichmäßigen Abständen drei Türbogen, zwischen denen schöne und kostbare Wandbehänge hingen.
Mehrere Dutzend Leute warteten in unterschiedlich respektvoller Haltung auf ihre Audienz beim Ritter.
Der krumme alte Mann huschte geradewegs an ihnen vorbei und schlüpfte durch einen Vorhang am hinteren Ende des Gangs. Er hielt den mit goldenen Tressen besetzten Rand für Delbridge zurück, während er mit schlecht unterdrückter Ungeduld mit dem Fuß tappte.
»Na, kommt schon.«
Delbridge konnte sich ein hochmütiges Lächeln nicht verkneifen, als er an den anderen Leuten vorbeimarschierte, die ihm neugierig nachstarrten. Der Seher in seiner Robe trat direkt in einen großen, mit Teppichen ausgelegten Raum, der bis auf drei gereizt wirkende Männer fast leer war, die am jenseitigen Ende, mindestens sechzig Fuß vom Eingang entfernt, an einem langen Tisch saßen.
»Eure Lordschaft«, verkündete der alte Mann, »Omardicar, der Allwissende, der Seher aus der Taverne.«
Delbridge neigte sich dicht zu dem Alten hin und flüsterte: »Wer sind die Männer?«
Das Faktotum verdrehte bei dieser Zumutung die Augen. »Hinter dem Tisch auf dem Samtstuhl sitzt Lord Curston. Der neben ihm ist sein Sohn, der junge Rostrevor. Und der da« – der Gefolgsmann zeigte auf einen großen Mann mit Glatze, der einen roten Umhang über seiner kräftigen Gestalt trug und rechts neben dem Stuhl des Lords stand – »das ist Balkom, Zauberer und erster Ratgeber von Lord Curston.«
Mit diesem Mindestmaß an Informationen schritt Delbridge voller Zutrauen nach vorn, wo er sich vor dem langen Tisch aufbaute. Er wartete keine Einleitung oder Einladung zum Sprechen ab.