Wütend verfinsterten sich ihre Augen von Meergrün zu Orkanschwarz. »Mit welchem Recht wollt Ihr das wissen? Ihr habt mich reingelegt!« Sie hob die Hand und wollte ihn ohrfeigen.
Mit zusammengekniffenen Mandelaugen fing Tanis ihre Hand ab. »Nicht mehr als Ihr, als Ihr bei Flint ein ›gewöhnliches‹ Armband in Auftrag gegeben habt. Ihr solltet wissen, wie sehr Zwerge der Magie mißtrauen. Welches Recht hattet Ihr, die magischen Eigenschaften des Armbands vor ihm zu verheimlichen?«
»Ich habe nie behauptet, daß es ›gewöhnlich‹ wäre«, gab sie zurück. »Ich habe einen bekannten Handwerker aufgesucht, der mir eine Arbeit erledigen sollte, für die er großzügig bezahlt wurde. Erzählt Ihr dem Schneider, der Euren Rock macht, auf welchem Fest Ihr tanzen geht?«
»Das ist nicht dasselbe!« schnappte Tanis.
Diesmal war es Flint, der zwischen die zwei Streitenden trat. Tanis ließ Selanas Handgelenk los, als Flint ihn böse ansah. »Was ist in dich gefahren? Was das Armband auch ist oder war, ich war dafür verantwortlich. Ich hätte es nicht aus den Augen lassen dürfen. Jetzt muß ich es zurückholen – und zwar egal wie!«
Seine beruhigend gemeinte Feststellung rief nur einen Schreckenslaut bei Selana hervor. »Wie lange wird das dauern?«
Flint wirkte überrascht. »Wenn dieser Delbridge nach Norden gegangen ist, und falls wir ihn finden« – er zuckte mit den Schultern – »drei Tage, mit etwas Glück weniger, mit Pech vielleicht eine Woche.«
»Und wenn Ihr ihn nicht findet? Oder wenn er das Armband irgendwo verloren hat? Was dann?« Ihre bisher leise Stimme wurde laut vor Aufregung.
»Warum ist dieses Armband so wichtig, Selana?« fragte Tanis müde. »Wer seid Ihr, daß Ihr Euch so verhüllen müßt?« Obwohl Tränen in ihren hübschen, vor Wut schmalen Augen glänzten, wehrte sie sich nicht, als er die Hände ausstreckte und den blauen Schal von ihrem Gesicht zog. Das Tuch flatterte zurück und legte sich in weichen Falten um ihre Schultern.
»Eine Meerelfin!« schluckte Tanis, als schimmerndes, silberweißes Haar in weichen Wellen um ihr Gesicht floß. Er kannte die zurückgezogen lebenden Meerelfen nur vom Hörensagen. Es waren entfernte Verwandte seines Volkes in Qualinesti. Man hatte ihm erzählt, daß ihre Haut so durchscheinend war, daß sie blau wirkte, doch Selanas war milchigweiß. Ihre Augen waren kugelrund und sehr groß, anders als die Mandelaugen der Elfen an Land. Obwohl sie eine menschenähnliche Gestalt hatten, lebten Meerelfen unter Wasser. Tanis hatte noch nie davon gehört, daß einer das Meer verlassen hatte und über Land gezogen war.
Ungewollt sammelten sich Tränen in Selanas Augen. Verstimmt wischte sie sie weg. »Ja, ich bin eine Dargonesti-Elfin.« Sie nahm das Ende ihres Schals und zwirbelte es sorgenvoll, während sie auf und ab zu laufen begann.
Flint vergaß seine eigene Schande, als väterliche Sorge für das offensichtlich verängstigte Mädchen aufkeimte. »Wollt Ihr uns nicht erzählen, was Euch so zu schaffen macht, daß Ihr deswegen das Wasser verlaßt?«
Selana blieb stehen, um die Gesichter der drei in dem kleinen Raum zu betrachten und dann resigniert zu seufzen. »Verzeiht mir, aber ich vertraue Fremden nicht so leicht. Bisher habe ich nämlich ein behütetes Leben geführt und nur sehr wenig Fremde kennengelernt.«
Sie hielt den Kopf erhoben. »In der Sprache der Dargonesti würde mein Name für Euch unaussprechlich klingen. In Eurer Sprache lautet mein Name Selana-von-den-Riffen-wo-der-Seetang-tanzt-und-die-Aale-herumflitzen-, Haijägerin, Lach-im-Mondlicht.« Sie hielt inne, sah aber nur verständnislose Blicke. »Prinzessin Selana Sonluanaau. Mein Vater war Salunatuaau, die Stimme der Monde.«
Sie ließ ihnen Zeit, erstaunt nach Luft zu schnappen, bevor sie fortfuhr: »Ich sage, er war, weil er beim letzten Vollmond ganz plötzlich gestorben ist.« Die mitleidigen Blicke tat sie mit einer Handbewegung ab. »Auch wenn ich ihn schrecklich vermisse – er hat ein erfülltes Leben gehabt. Es war an der Zeit für ihn. So ist das bei uns.«
Sie trocknete die Tränen mit dem Handrücken. »Es ist bei uns auch so, daß der Herrscher unseres Volkes von Natur aus die Fähigkeit besitzen muß, die Zukunft vorherzusehen. Mein Vater konnte es. Er wußte, daß er sterben würde, auch wenn er es geheimgehalten hat, bis es zu spät war.«
»Jetzt versteh ich!« rief Tolpan. »Ihr braucht das Armband, damit Ihr Königin werden könnt!«
Selana sah den Kender stirnrunzelnd an und schüttelte dann den schillernden Kopf. »Nein, ich will die Krone nicht für mich, sondern für meinen älteren Bruder.«
Tolpan zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen. »Jetzt bin ich aber wirklich durcheinander. Wenn er von Natur aus in die Zukunft sehen kann, wozu braucht Ihr dann ein Armband?«
Ein unendlich verzweifelter Ausdruck legte sich über das schöne Gesicht der Meerelfin. »Mein Bruder Semunel ist gut und stark und weise, aber aus Gründen, die nur der großmütige Gott Habbakuk kennt«, sie seufzte, »besitzt er diese Gabe nicht. Semunel wird gut und lange herrschen, aber nur wenn er den Thron besteigen kann. Das kann er nur, wenn er den Regenten aus dem Haus des Gesetzes beweist, daß er die Fähigkeit besitzt zu sehen, was sein wird. Ohne das Armband wird er die Prüfung auf keinen Fall bestehen.«
Selana fing wieder an, hin und her zu laufen. »Semunels Versagen war ein Geheimnis, das nur mein Vater, mein Bruder und ich kannten – nicht einmal meine Mutter wußte davon. Es gibt Leute, die gern das Ende des Hauses Sonluanaau sehen würden.«
Um ihre aufgewühlten Emotionen zu beruhigen, betrachtete die Prinzessin eines der Bücher in dem Regal und fuhr mit den Fingern über seinen Rücken. »Wir hatten gehofft, daß die Fähigkeit vielleicht nur in ihm schlummerte und sich irgendwann zeigen würde, aber das ist nicht geschehen… Jetzt ist Vater tot, und wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«
Tanis räusperte sich. »Ohne unverschämt wirken zu wollen, aber ist es nicht unehrenhaft, die Regenten – und damit das Volk – zu täuschen, wenn Euer Bruder die Fähigkeit nicht besitzt, die Eure Bräuche fordern? Vielleicht hatte Habbakuk einen Grund, warum er Semunel die Fähigkeit versagt hat.«
Bei Tanis’ Unterstellung schob Selana das Buch ins Regal zurück. »Ist es falsch, wenn ich will, daß das Volk gerecht regiert wird und daß die Herrschaft nicht an solche fällt, die diese Macht mißbrauchen würden?« In diesem Augenblick fand sie den Halbelfen mit seinen einfachen Kleidern und dem struppigen Haar bäurisch. Die Meerelfin sagte verächtlich: »Was weißt du schon von Politik und Hofintrigen, Halbelf?«
Tanis lachte verbittert. »Mehr als mir lieb ist, meine liebe Prinzessin«, sagte er trocken. Tanis’ Gesicht glühte vor Wut, als er in die Küche ging.
»Huch, was ist denn mit dem los?« fragte Tolpan.
Flint bemerkte den erstaunten Ausdruck auf Selanas Gesicht. Nur er kannte den Grund für Tanis’ heftige Reaktion, doch sie hatte nicht ahnen können, welchen wunden Punkt sie mit ihren Worten berührt hatte. Flint fand, daß es nicht seine Aufgabe war, der Meerelfin zu erklären, daß niemand sich in Hofintrigen besser auskannte als Tanis, der ihnen vor langer Zeit einmal zum Opfer gefallen war.
Das Halbblut hatte als persönliches Mündel der Stimme der Sonne eine qualvolle Jugend am Hof von Qualinesti durchlebt. Viele, viele Jahre waren vergangen, seit der Zwerg den unglücklichen, jungen Elfen dort kennengelernt hatte. In ihm hatte er einen Seelenbruder gefunden, einen, der auch nicht in aller Ruhe bei seinem Volk leben konnte. Tanis hatte einen schrecklichen Zusammenstoß mit seinem Vormund gehabt – genauer gesagt, er war des Mordes angeklagt worden. Obwohl seine Unschuld bewiesen wurde, hatte Tanis beschlossen, daß er als einziger Halbelf mit dem einzigen Zwerg, Flint, besser in das Menschenstädtchen Solace paßte.
»Tanis – oder Tanthalas, wie er bei den Qualinesti-Elfen heißt – hat viel mehr erlebt, als es den Anschein hat«, war die einzige Erklärung des alten Zwergs.