Selana wirkte beschämt. »Es tut mir leid, wenn ich ihn beleidigt habe, aber ich bin so damit beschäftigt, mein Armband zu finden, und ich kenne Eure Sitten nicht.« Sie strich ihre blaue Robe glatt und ging zur Tür. »Aber jetzt würde ich gerne mit unserer Suche nach diesem Barden anfangen.«
»Au ja, mir wird’s auch zu langweilig. Gehen wir«, sagte Tolpan, sprang auf und lief zur Tür.
Vor Verblüffung erstickte Flint beinahe an seinem letzten Schluck. »Prinzessin, ich glaube, Ihr versteht nicht, was wir vorhaben. Das Leben auf der Straße ist hart, unbequem und schmutzig – völlig unzivilisiert«, fügte er hinzu, um hoffentlich das Richtige zu treffen. »In Solace habt Ihr es viel bequemer und sicherer, während wir losziehen und das Armband zurückholen.«
»Absolut nicht«, sagte sie. »Ich bin weder hilflos noch unerfahren«, verteidigte sie sich. »Ich bin schließlich auch ganz allein bis Solace gekommen.«
Flint schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin sicher, daß Ihr die Reise gut überstehen würdet, aber wenn wir ihn erst einmal finden, haben wir es mit einem in die Enge getriebenen Dieb zu tun.«
Tanis, der von der Küche aus zugehört hatte, fügte hinzu: »Ihr würdet uns nur aufhalten, Prinzessin. Überlaßt diese Sache einfach uns.«
»Wenn Ihr mich doch bitte beide für voll nehmen würdet«, sagte sie steif. Dann wandte sie sich an Flint. »Ohne Euch beleidigen zu wollen, Meister Feuerschmied, aber ich habe einmal jemand anderem etwas überlassen, und das tue ich nicht ein zweites Mal.« Selana bemerkte Flints beschämte Miene. »Ich gehe mit oder ohne Euch.«
Flint kannte sie noch nicht lange, aber er hatte oft genug Karten gespielt, um einen Bluff zu erkennen, wenn er einen sah, und die dickköpfige Prinzessin Selana bluffte nicht. Er konnte sie nicht allein herumsuchen lassen. Mit einem langen, tiefen Seufzer gab er nach. »Na schön, Ihr habt gewonnen.«
Selana gestattete sich ein Lächeln. »Ihr werdet schon sehen. Ich kann Euch durchaus behilflich sein.«
Tanis, der mit verschränkten Armen auf der Schwelle zur Küche stand, lachte ungläubig.
Flint klatschte in die Hände und setzte sich eine Mütze auf seine von Grau durchzogenen Haare. »Na dann«, sagte er, ohne Tanis zu beachten, »worauf warten wir?«Es wurde für keinen von ihnen ein angenehmer Tag, nicht einmal für Tolpan. In den hügeligen Vorbergen des Ostwall-Gebirges machten sie Rast. Selana saß abweisend auf einem trockenen Baumstumpf; Tanis hockte ihr zu Füßen auf dem Boden und lehnte sich an den Stumpf an. Flint lief verärgert vor dem Kender hin und her, der bäuchlings auf der weichen Erde lag, den Kopf in die Hände stützte und die Karte betrachtete, die vor ihm lag.
»Woher wissen wir denn, daß das kein neuer Berg ist?« fragte er trotzig. »Du weißt doch, während der Umwälzung sind sie rechts und links und geradeaus nur so emporgeschossen – man wußte gar nicht mehr, wo man hintreten sollte. Meine Karte ist jedenfalls völlig in Ordnung.« Der Kender schlug bekräftigend auf die Karte.
Als sie vor ihrem Aufbruch in Solace eine von Tolpans vielen Karten betrachtet hatten, hatten die Gefährten gesehen, daß es im Norden nur drei erwähnenswerte Orte gab: Que-taw, Rabental und Tantallon. Die einzige größere Straße nach Norden führte viel weiter nach Osten als nötig, bevor sie wirklich nach Norden abknickte.
Sie hatten sich überlegt, daß sie Zeit sparen würden, indem sie querfeldein gingen und dann das Gelände in Richtung Osten durchquerten, das auf Tolpans Karte offen und eben aussah. Daher waren sie von Solace aus am Ostufer des Krystallmirsees entlang nach Norden gezogen und dann durch eine Gegend gewandert, die unter dem Namen ›Nahe Felder‹ bekannt war. Den ganzen Nachmittag waren sie bei bewölktem Himmel am Fuß des Ostwall-Gebirges nach Norden gelaufen und hatten auf die Stelle gewartet, wo der Bergkamm aufhörte, damit sie nach Osten durchstoßen konnten. Der Karte nach waren sie längst über den Punkt hinaus, wo die Berge hätten enden sollen.
»Tolpan«, setzte Flint geduldig an, »mal ehrlich, bist du je zuvor in dieser Gegend gewesen? Hast du diese Karte selbst gemacht?«
Tolpan machte ein verlegenes Gesicht. »Nicht richtig. Eines Tages habe ich sie sozusagen in meinem Sack gefunden, daher weiß ich nicht so genau, wo sie herkommt.« Er zog nachdenklich die Augenbrauen hoch und holte aus der Tasche Tintenfläschchen und Federkiel. »Ich habe sie aber ergänzt, und jetzt wäre es doch an der Zeit, den Rest dieser Bergkette einzuzeichnen, nicht wahr?« Er kratzte mit der Feder über das Papier, wobei er konzentriert an seiner Lippe nagte.
»Vorwürfe helfen uns auch nicht weiter, Flint«, sagte Tanis müde, während er dem Zwerg einen Kanten Brot und ein Stück Trockenfleisch reichte. »Laß uns einfach etwas essen und dann weiterlaufen.«
Flint nahm das Essen, ließ sich ins Gras fallen und kaute. Er blickte in das nachlassende Sonnenlicht. »Wir können genausogut hier das Nachtlager aufschlagen. Außerdem dürften Selanas Füße jetzt dick geschwollen sein, nachdem sie zehn Minuten gesessen hat.«
Alles blickte zu der zerschundenen Prinzessin, die an ihrem Stück Brot herumknabberte, nachdem sie das angebotene Fleisch mit verächtlichem Naserümpfen abgelehnt hatte.
Selana hatte es zweifellos am schwersten. Sie war unterwegs so oft ausgerutscht oder über ihr Kleid gestolpert und gestürzt, daß ihr Gesicht eine richtige Dreckkruste aufwies. Ihr schöner blauer Umhang war am Saum gerissen, weil sich darin dauernd dorniges Gestrüpp verhakt hatte. Ihre weichen Lederstiefel waren von oben bis unten voll Schmutz und konnten die Unebenheiten des Geländes überhaupt nicht abfedern. All das hatte sie sehr gereizt gemacht, und sie hielt sich abseits und redete nur, wenn man direkt eine Frage an sie richtete. Hilfe jedweder Art lehnte sie jedoch ab.
»Es geht schon, wirklich«, protestierte sie schwach. »Ich bin bloß das viele Laufen nicht gewöhnt.«
»Ja, richtig!« rief Tolpan aus. »Wahrscheinlich schwimmt sie normalerweise, wenn man bedenkt, wo sie herkommt. Aber lauft ihr denn niemals auf dem Meeresboden entlang?«
Selana warf einen Blick in sein neugieriges Gesicht und wurde hochmütig.
»Manchmal«, erwiderte sie schnippisch.
»Ich bin froh, daß du das Thema aufgebracht hast, weil ich eine Reihe äußerst wichtiger Fragen habe«, sagte der Kender, der seine Feder schreibbereit hielt. »Gibt es unter Wasser Sonnenlicht? Ich wette, nicht, aber wie seht ihr dann etwas? Werden eure Finger und Zehen auch ganz schrumpelig? Gibt es Türen oder überhaupt Häuser? Und wenn nicht, wie verhindert ihr dann, daß Sachen gestohlen werden?
Und wie ist das mit dem Reden? Immer wenn ich versuche, unter Wasser etwas zu sagen, gibt es nur Geblubber, und ich habe den ganzen Mund voll Wasser. Damit müßt ihr ja wahrscheinlich die ganze Zeit fertig werden. Und dann frage ich mich wirklich, wie ihr das unter Wasser mit dem Atmen macht. Vielleicht kannst du mir das mal in einem Eimer Wasser zeigen?«
»Tolpan!« rief Tanis entgeistert.
»Was denn?« fragte der Kender mit großen, unschuldigen Augen.
Anstatt beleidigt zu sein, lachte Selana zum ersten Mal. »Ich kann es Tolpan nicht verübeln, daß er jemanden ausfragt, der anders ist – ich gebe zu, daß ich selbst neugierig bin, was die Landbewohner angeht«, sagte sie zu Tanis, bevor sie sich dem Kender zuwandte. »Ich weiß nicht, ob das mit dem Eimer so geht, aber ich werde dir gern deine Fragen beantworten, wenn du meine beantwortest und mir hilfst, eure Sitten zu verstehen.«
»Mit Vergnügen!« Strahlend bot Tolpan ihr seinen Arm an, um die Meerelfenprinzessin von dem Baumstumpf zu einem geschützteren Platz bei einem blühenden Holzapfelbaum zu führen. »Laßt uns ungestört weiterreden.« Über die Schulter schnitt er Tanis eine Grimasse.
Flint und Tanis sahen den beiden nach.
»Na, wenn das nicht dreist ist.« Tanis blickte ihnen finster nach. »Ich stelle ein paar intelligente Fragen – verteidige noch ihre Privatsphäre, zum Kuckuck –, und schon bin ich ein unverschämter Hund, der am besten gar nicht geboren wäre.« Der beleidigte Halbelf deutete in Richtung des Kenders, der glücklich neben der Meerelfin saß und plauderte. »Der beleidigt sie ganz ungeniert, und die beiden werden die besten Freunde. Wahrscheinlich findet sie seine Dreistigkeit niedlich oder so.«