»Du bist doch wohl nicht eifersüchtig auf einen Kender?« neckte Flint, der den Halbelfen aus dem Augenwinkel beobachtete.
»Bestimmt nicht!« knurrte Tanis. »Ich wüßte bloß gerne die Regeln, mehr nicht.«
Nach einem letzten verwirrten Blick auf Selana ging Tanis los, um Feuerholz zu suchen. Weil ihm plötzlich kalt war, sah er zum dunkler werdenden Himmel hoch und krempelte die Ärmel seiner Wildlederjacke herunter.
Aber der Halbelf wußte, daß diese Kälte nichts mit dem Wetter zu tun hatte.
Zwei Stunden später gab es Abendbrot, das aus geschmortem Schweinesteak, in Bratensaft eingeweichten und dann gekochten Trockenerbsen und wiederum Brot bestand. Flint saugte mit seinem Brot den Rest der leckeren Soße auf, stopfte es in den Mund und schluckte es in einem Stück herunter. Dann lehnte er sich an einen Felsbrocken an, den sie ans Feuer gerollt hatten, tätschelte seinen vollen Bauch und rülpste zufrieden.
»Keiner kann behaupten, du wärst kein guter Koch, Tolpan«, sagte er. Der Zwerg verschränkte die Finger hinter dem Kopf. »Will nicht einer eine Geschichte erzählen?«
Tanis hob abwehrend die Hände. »Meine hast du alle schon tausendmal gehört.«
»Selana hat eine gute«, platzte Tolpan heraus.
Die Meerelfin wurde rot. »Die wollen sie bestimmt nicht hören.« Sie sah Tanis an.
»Bestimmt wollen sie!« rief Tolpan. »Sag ihr, daß du sie hören willst, Tanis!«
Flint bemerkte den verdrossenen Ausdruck im Gesicht des Halbelfen. »Wir sind an allen Geschichten über Euer Volk interessiert, die Ihr uns freiwillig erzählt«, sagte er entgegenkommend.
»Ich höre immer gern von fremden Bräuchen und Völkern«, brachte Tanis schließlich heraus. Grinsend wandte er sich an den Kender. »Da du die Geschichte bereits kennst, Tolpan, finde ich, daß jetzt du an der Reihe bist, Feuerholz zu holen.«
»Außerhalb des Feuerscheins ist es dunkel«, sagte Selana. »Hier, nimm das, Tolpan.« Sie griff tief in ihre Robe und zog eine kleine, gebogene Muschel heraus. »Das ist eine besondere Schneckenmuschel. Halt sie so fest« – sie legte Tolpans Hand auf das abgerundete Ende – »und richte sie auf das, was beleuchtet werden soll.« Tolpan und die anderen sahen überrascht, wie gedämpftes, gelbes Licht aus der Öffnung der Muschel strömte.
»Hui! Wie macht sie das?« fragte Tolpan. »Seht ihr so unter Wasser?«
»Nein, das ist meine eigene Erfahrung«, gab die Meerelfin zu, ohne das weiter zu erklären.
»Ihr meint, sie ist magisch«, warf Tanis ein. »Ihr habt nie gesagt, daß Ihr eine Zauberin seid.«
»Ich kann eine gewisse Anzahl Sprüche, ja«, gestand Selana. »Ihr habt nie gefragt. Außerdem habe ich nach Eurem Kommentar in Solace gedacht, Flint würde sich dadurch unwohl fühlen.«
»Ihr habt gedacht, er würde Euch nicht mitnehmen!«
»Ich habe sowieso nicht geglaubt, daß er mich mitnehmen würde«, sagte sie ohne Umschweife. »Ich habe ihm gesagt, daß ich mit ihm oder ohne ihn gehen würde.«
»Könntet ihr zwei wohl aufhören, über mich zu reden, als ob ich gar nicht da wäre?« unterbrach Flint. »Ich geb’s ja zu, Tanis, ich halte nicht viel von Zauberei, aber bis jetzt hat es dadurch noch keine Probleme gegeben.«
»Wird es auch nicht«, erklärte Selana fest. »Ich hatte mich sowieso schon gefragt, wie ich das Thema aufbringen sollte. Ich habe nämlich bereits Gegenstand finden auf Tolpans Karte gesprochen und dabei festgestellt, daß das Armband in Tantallon ist. Das sollte uns die Sache erleichtern.«
Flint und Tanis wechselten einen Blick. Das war eine gute Nachricht – Tantallon war nicht weit entfernt. Dorthin konnten sie mit und ohne Tolpans Karte finden. Aber Zauberei machte sie nervös, und beide schwiegen.
Weil sie gern das Thema wechseln wollte, wandte sich Selana an den Kender, der die Muschel fasziniert immer wieder an und aus machte.
»Wenn du in Not bist, Tolpan«, sagte Selana, »dann blas einfach in die Muschel.« Die Meerelfin machte vor, wie er die Lippen an die Muschel legen sollte. Neugierig machte Tolpan es ihr nach und brachte einen lauten Ton heraus.
»Das ist phantastisch!« krähte der Kender glücklich. »Klingt genau wie eine Trompete!« Er wollte noch einmal hineinblasen, aber Flints Hand zog die Muschel von seinen Lippen.
»Denk dran, Tolpan, du sollst nur reinblasen, wenn du in Not bist. Und glaub mir, du wirst wirklich Hilfe brauchen, wenn ich dich dabei erwische, daß du aus Spaß tutest.« Der Zwerg war sich nicht ganz sicher, ob seine Warnung angekommen war, denn der Kender machte sich ganz unbekümmert in den dichten Wald auf, um außerhalb des Feuerscheins Holz zu sammeln und vor allem, um die Reichweite des Lichts auszuprobieren.
Tanis machte es sich wieder bequem und gab sich umgänglicher. »Ihr habt einen interessanten Namen, Prinzessin. Was bedeuten die Ehrentitel – ›Haijägerin‹ und ›Lachen-im-Mondlicht‹?«
Selana sah Tanis einen Augenblick lang durchdringend an, als ob sie überlegte, ob seine Frage ernst gemeint oder eine Art Trick war.
»Jedes Dargonesti-Kind bekommt zwei besondere Namen, die Ihr gerade als Ehrentitel bezeichnet habt, einen von der Mutter, den anderen vom Vater. Nur Familienmitglieder benutzen sie, auch wenn sie jeder kennt.
Lachen-im-Mondlicht stammt von meiner Mutter und ist ein ziemlich häufiger Name. In hellen Nächten, wenn der Mondschein durch die Wellen nach unten dringt, haben die kleinen Kinder ihren Spaß daran, den Strahlen nachzujagen, bis die Eltern sie ins Bett schicken.
Haijägerin nannte mich mein Vater. Er hat mir den Namen gegeben, als ich vierzehn war, und ich bin sehr stolz darauf.«
Während sich Selana für das Thema erwärmte, entspannte sie sich allmählich. »Der Tag der Rückkehr«, erzählte sie weiter, »ist für mein Volk ein sehr hoher Feiertag. Er erinnert an den Tag, wo Nakaro Silberwache, einer unserer größten Helden, seine Aufgabe erfüllte, das verlorene Schwert Flutbrecher zurückzugewinnen. Es war die Waffe von Drudarch Takalurion, dem Begründer unserer Nation und der allerersten Stimme der Monde. Nakaro mußte tief ins Reich der Koalinth und Lacedone reisen – der Meereshobgoblins und Meeresghule – und sich vielen Gefahren stellen, um das verlorene Schwert zurückzuholen. Diesen großen Tag feiern wir jedes Jahr mit Festessen und Ausflügen.
Als ich vierzehn war, ist meine Familie zur Feier des Tages der Rückkehr nach Armach uQuoob gereist, zum ›Trockenen Land im Meer‹. Eure Vorfahren kannten die Stadt unter dem Namen Hoorward; bevor die Umwälzung sie im Meer versenkte, lag sie auf der Insel Kosketh Minor. Vor langer, langer Zeit war sie unsere Hauptstadt, aber in meiner Kindheit war es nur noch ein Außenposten an der Grenze unseres Landes. Dort hielten wir Wache gegen die bösen Seewesen, die in unser Reich einzudringen drohten: Koalinth, Lacedone und ihre Verbündeten, die Knochigen, Riesenpolypen und Haie. Als Landbewohner glaubt Ihr vielleicht, das wären nur Tiere, aber da irrt Ihr Euch. In den Tiefen der Ozeane sind sie intelligent und schlau, und in ihren dunklen Höhlen und versunkenen Ruinen schmieden sie böse Ränke gegen mein Volk.«
Während dieser Einleitung war Tolpan mit einem Armvoll Holz zurückgekehrt, wobei er mit dem Licht durch die Bäume leuchtete und das Horn spielerisch an die Lippen setzte. Er schmiß das Holz ohne weitere Umstände auf den Boden und ließ sich dann neben Flint auf einem Holzklotz nieder. Dann zog er die Knie eng an die Brust, schlang die Arme darum und legte das Kinn auf die Knie. »Hör nicht meinetwegen auf«, sagte er. »Ich hör zu.«
Das Feuer knisterte, und Funken flogen durch die Luft, während Selana ihre Geschichte fortsetzte. »An diesem Tag der Rückkehr hatten wir uns auf der Sandebene vor der Stadt zu Zeremonien und Festlichkeiten versammelt. Ich sollte neben meinem Vater auf dem Korallenschlitten sitzen, wenn er die Bürger begrüßte. Aber als es soweit war, war ich nirgends zu finden. Mein Vater konnte den Festakt nicht verschieben, obwohl er über meine Pflichtvergessenheit wütend war. Darum schickte er den Hauptmann seiner Leibwache los, um mich zu suchen.«