Irgendwann öffnete jemand die dicke Holztür, aber Delbridges Augen waren so an die Dunkelheit gewöhnt, daß er im hellen Eingang nur einen vagen, menschengroßen Umriß ausmachen konnte. Er versuchte, mit der Person zu sprechen und zu ihr hin zu kriechen, aber der Unbekannte knurrte nur, warf etwas auf den Boden und schlug Delbridge die Tür vor der Nase zu. Auf den kalten Steinblöcken fand er ein Stück altes Brot und einen Wasserschlauch, dessen Inhalt wie das Innere des Tiers roch, aus dem der Behälter gemacht war.
Zu seiner Hauptbeschäftigung wurde es, die Kleinigkeiten im Auge zu behalten, die ihn störten, denn sonst hätte er über wirklich wichtige Dinge nachdenken müssen, wie zum Beispiel seine prekäre Lage. Seine völlige Hilflosigkeit brachte ihn an den Rand der Panik. Noch nie war er in einer Lage gewesen, aus der er sich nicht durch Lügen, Betrügen oder Stehlen hatte herauswinden können. Er wußte einfach nicht, wie er mit einer solchen Krise wie dieser umgehen sollte.
Wann würde jemand kommen, dem er diesen schrecklichen Irrtum erklären konnte? Am Vortag war er vor Lord Curston aufgetreten und hatte gesehen, daß dem einzigen Sohn des Ritters eine Katastrophe drohte. Seine Gefangenschaft mußte etwas damit zu tun haben, denn seit seiner Ankunft in Tantallon hatte er sonst nichts getan.
Warum wurde er bestraft? Wenn Delbridges Vision abgewendet worden war, müßten alle glücklich sein; sie müßten ihn mit Belohnungen überschütten. Und wenn nichts geschehen war, das Lord Curstons Sohn bedrohte, sollten sie noch glücklicher sein. Er wurde doch bestimmt nicht so behandelt, weil man ihn für einen Scharlatan hielt?
Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß es noch eine dritte Möglichkeit gab. Wenn dem Knappen Rostrevor nun etwas Unaussprechliches zugestoßen war? Delbridge schluckte. Diese Möglichkeit war ihm gestern so abwegig erschienen. Der Junge war doch zwischen den Wachen des Ritters und den Sprüchen des Zauberers Balkom vor allem geschützt gewesen, was ihn bedrohen mochte.
Aber wenn nicht? In der Vision hatte ihn eindeutig etwas erwischt. Vielleicht war die Vision wahr geworden, und jetzt saß Delbridge im Gefängnis.
Sie glaubten, daß er etwas damit zu tun hatte! Das war die einzige logische Erklärung. Der Junge war verschwunden, und der Ritter gab Delbridge die Schuld. Er sank auf den Steinboden der Zelle und schlang die Arme um den Kopf. Was sollte er mit dem Jungen wollen? Er hatte schon genug Probleme damit, für sich selbst zu sorgen.
Selbst wenn er die Tat nicht selbst begangen hatte, sah es natürlich so aus, als wenn er alles von Anfang an gewußt hätte.
Delbridge versuchte es mit etwas zuversichtlicheren Gedanken. Vielleicht war seine Vision nur so etwas Ähnliches wie das, was Rostrevor passiert war. Vielleicht konnte er noch einmal betonen, daß er das Unheil nur vorhergesehen, nicht aber verursacht hatte. Die Tragödie war geschehen, weil Curston und sein Magier den Jungen nicht angemessen beschützt hatten. Vielleicht konnte er ja jemanden überzeugen, falls jemals einer mit ihm reden würde. Er seufzte.
Delbridge sah zur Tür. Wann würde sie sich wieder öffnen?
An diesem ganzen Mist war nur das verdammte Armband schuld! Delbridge fuhr mit der Hand in die Tasche, holte das kalte Metall ganz unten heraus und riß dabei den Saum der Tasche auf. »Was für ein vermaledeites Unglücksding«, fluchte er und warf das Armband an die Steinmauer der stinkenden Zelle, wo es mit einem Rascheln im Stroh landete. Delbridge steckte seine Hände in die Manteltaschen und lief hin und her.
Wenn Lord Curston ihn nicht umbrachte, würde die Warterei das übernehmen.
Irgendwann suchte er sich ein trockenes Eckchen Stroh und schlief ein. Eine Weile später weckte ihn Licht, das durch die geöffnete Tür fiel.
»Nimm deinen ekligen Fraß wieder mit«, murmelte der Gefangene, ohne aufzusehen oder aufzustehen. »Den Abfall, den du vorhin gebracht hast, habe ich nicht gegessen, und den, den du jetzt bringst, werde ich auch nicht essen, du ungewaschener, ungebildeter Affe von Türsteher.« Während er sich mühsam aufrichtete, beschloß Delbridge, einfach sein Glück zu versuchen. »Ich bestehe darauf, sofort denjenigen zu sehen, der für meine irrtümliche Gefangennahme verantwortlich ist!«
»In Eurer Lage könnt Ihr auf gar nichts bestehen«, grollte eine Baritonstimme. »Vielleicht ist Euch nicht klar, welch schwere Anklage gegen Euch besteht.«
»Genau das ist es! Ich weiß nicht einmal, wie die Anklage lautet!« heulte Delbridge, der völlig sein hochmütiges Gehabe vergaß. »Wer bist du überhaupt? Ich kann dein Gesicht nicht sehen. Könnten wir nicht hier drin Licht machen, vielleicht eine Fackel? Oder, warum gehen wir nicht lieber gleich woanders hin – «
»Skala delarz.«
Delbridge sprang zurück, als vor seinen Augen Flammen hochschossen und seine Augenbrauen versengten. Als er wieder sehen konnte, entdeckte er zu seinem Entsetzen, daß die Flammen aus der linken Hand des Mannes loderten. Aber noch erstaunlicher war, daß der Kerl Delbridge ganz ruhig betrachtete, während er seine brennende Hand wie eine Fackel hochhielt. Instinktiv griff Delbridge hin und wollte das Feuer löschen. Mit einem Wink des brennenden Arms hielt ihn der Mann zurück.
»Faßt mich nicht an. Ich habe einen einfachen Feuerzauber gesprochen, damit es hell wird. Das finde ich weniger lästig, als eine Fackel mitzuschleppen.« Er drehte seine Hand bewundernd hin und her. »Macht ziemlich viel Eindruck, nicht wahr?«
»Ja, allerdings…« Delbridge trat zurück und sah den Mann im Licht des unnatürlichen Feuers mißtrauisch an.
Er erkannte, daß es Balkom war, der Zauberer, den er am Vortag als Lord Curstons Berater kennengelernt hatte. Aus der Nähe fiel Delbridge auf, daß er zu Balkom aufblicken mußte, weil der Mann überdurchschnittlich groß war. Er trug einen langen, glänzendroten Umhang mit Kapuze, der über den kräftigen, breiten Schultern schwarz abgesetzt war. Der Umhang wurde von einer großen Brosche mit einem Edelstein zusammengehalten. Die Gesichtshaut des Zauberers wirkte fast durchsichtig und papierdünn, wie das Fleisch einer reifen Honigmelone. Unter der unnatürlich glatten Oberfläche pulsierten blaue Adern. Im Gegensatz zum Vortag trug er heute eine dunkelrote, bestickte Augenklappe aus Seide über dem rechten Auge.
Während er angesichts von Delbridges Unbehagen leise in sich hineinlächelte, blies der Mann die Flammen aus und zog dann – mit immer noch rauchender Hand – einen dünnen Stab aus seinem Gewand. Ein geflüsterter Befehl ließ ein schwaches Licht aus dem Stab strömen, das den Raum sanft erleuchtete.
»Ihr habt uns da gestern eine interessante Geschichte aufgetischt«, sagte Balkom plaudernd in seiner gleichmäßigen Baritonstimme.
»Danke. Ich freue mich sehr, daß Ihr das so seht«, antwortete Delbridge sarkastisch.
»Vielleicht könntet Ihr so gut sein, mir zu verraten, warum ich dann eingesperrt wurde.«
Der Magier verschränkte die Arme und wippte auf den Absätzen. »Alles zu seiner Zeit. Eure Geschichte hat bei Lord Curston großen Eindruck hinterlassen. Wie habt Ihr sie erfahren?«
Da Delbridge eine Gelegenheit sah, wie er sich retten und für sich werben konnte, ließen Angst und Unsicherheit nach, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Er richtete sich zu seiner ganzen, wenig eindrucksvollen Größe von etwas über fünf Fuß auf. »Das war eine wirkliche Vision. Ich habe Euch ja gesagt, ich bin ein Orakel, ein Seher. Wenn meine Fähigkeit mir eine Stellung am Hof verschafft hat, muß ich sagen, daß mir die Art, wie Ihr mir diese Neuigkeit mitteilt, nicht gefällt. Vielleicht muß ich die Sache ja noch einmal überdenken – oder wenigstens meine Gehaltsvorstellungen.« Delbridge deutete auf die Zelle. »Diese kleine Farce hier, die mich offenbar auf die Probe stellen soll, ist nicht lustig.«