»Das ist weder eine Prüfung, noch soll es lustig sein.«
Die Stimme des Magiers klang wie schwere, zuschlagende Eisentüren. Balkom begann, langsam und gelassen herumzulaufen. Der Saum seiner Robe raschelte leise, als er über den kalten Steinboden glitt. Dann blieb Balkom stehen und betrachtete Delbridge und legte den Finger nachdenklich an die Lippen.
»Omardicar… Der Name sagt mir nichts. Ihr seid nicht von hier, nicht wahr?«
Delbridge schüttelte den Kopf. »Ich bin nur zur Burg Tantallon gekommen, um Lord Curston meine Dienste anzubieten. Ich bin aus« – Delbridge erinnerte sich an seinen unrühmlichen Abgang von Burg Thelgaard – »sagen wir mal, ich reise viel herum.«
»Der Sohn eines Edelmanns, entführt und irgendwo gefangengehalten, weggehext, um sich etwas unendlich Bösem zu stellen, die Familie in Trauer und Sorge zurückgeblieben… Was für ein tragisches Schicksal.« Balkom fischte etwas aus einer Tasche und spielte in der Handfläche damit. »Ist das alles, was Ihr wißt, oder habt Ihr in dieser ›Vision‹ noch mehr gesehen?«
Delbridge ließ sich nicht gern an die Bilder erinnern. Seine Schultern sackten wieder herab. »Nein. Ich habe Euch alles gesagt.« Die Wendung, die das Gespräch nahm, gefiel ihm gar nicht.
Die Augen des Gefangenen wurden schmal. Er beschloß, ein letztes Mal zu versuchen, herauszubekommen, was eigentlich los war. »Ich beantworte anscheinend sehr viele Fragen, erfahre selbst aber nur wenig. Ich weiß nicht einmal, weshalb ich hier bin. Warum sollte ich Euch irgend etwas erzählen?«
Der Magier fummelte abwesend an seinem Stab und dem anderen Ding in seiner Hand herum. Jetzt erkannte Delbridge, daß es ein großer, blauer Edelstein war. Dann sah Balkom Delbridge wieder an. »Ihr solltet mir beantworten, wonach ich frage, weil ich derjenige bin, der Euch verhört. Wenn Ihr meine völlig berechtigte Neugierde zufriedenstellt, kann ich Eure Freilassung bewirken. Wenn nicht – wenn Ihr statt dessen neue Fragen stellt oder beunruhigende Zweifel an Euren Absichten und Motiven aufkommen laßt –, dann könntet Ihr feststellen, daß Ihr eine lange, lange Zeit hierbleiben müßt.« Indem er sich näher zu Delbridge herunterbeugte, fügte er hinzu: »Oder – noch schlimmer – eine sehr kurze Zeit.«
Mit unverbindlicher Miene richtete sich der Magier wieder auf. »In jedem Fall solltet Ihr meiner Meinung nach vielleicht wissen, warum Ihr hier seid. Ich werde es Euch erzählen, damit wir beide auch wirklich über dieselbe Sache reden.«
Während er den blauen Stein zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, lief er hin und her. »Als wir heute morgen das Zimmer des Knappen Rostrevor aufmachten, war es leer. Der Knappe war fort – spurlos verschwunden. Da die Wachen und meine magischen Schutzvorkehrungen an ihrem Platz waren, konnte nichts, was ich kenne, den Raum unbemerkt betreten oder verlassen haben. Dennoch war der Knappe nicht mehr da.«
Delbridges Augen quollen vor Überraschung hervor. Seine schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet: Knappe Rostrevor war wirklich entführt worden, und man gab ihm die Schuld daran.
Der einäugige Magier blieb vor Delbridge stehen. »Nur jemand, der über unseren Plan Bescheid wußte, hätte sich so kühn hineinschleichen können.«
Delbridge zitterte wie Espenlaub. Er hatte für jemand anderen eine Tragödie vorhergesehen und wurde nun deren Opfer.
Diese trübsinnigen Gedanken wurden durch Balkoms weiche Stimme unterbrochen. »Ihr seid natürlich ganz böse in die Sache verwickelt. Wenn Ihr mir sagt, was aus dem Knappen geworden ist und wie das Verbrechen ausgeführt wurde, wird Eure Hinrichtung gnädig ausfallen.«
»Hinrichtung!« Die Todesdrohung weckte Delbridge wie ein Schlag ins Gesicht. »Ich habe nichts mit dem Verschwinden des Jungen zu tun! Bis zu meiner gestrigen Audienz wußte ich doch nicht einmal, daß Lord Curston einen Sohn hat. Wie hätte ich ihn entführen sollen? Wozu hätte ich ihn entführen sollen?«
»Genau das will ich herausfinden.«
Selbst in seiner Panik erkannte Delbridge die Aussichtslosigkeit der Sache. Zweifellos war da schwarze Magie im Spiel, etwas viel Dunkleres als das Armband. Solche Hexenjagden hatte er schon miterlebt. Wenn das hier so ablief, wie er befürchtete, würde er um so schuldiger wirken, je weniger Beweise man gegen ihn hatte. Gleichzeitig wagte er nicht, irgend etwas zu sagen, was als Geständnis oder Schuldbekenntnis ausgelegt werden konnte.
»Gnädiger Herr, ich bitte Euch zu bedenken, wessen Ihr mich anklagt. Wenn ich daran beteiligt wäre, warum hätte ich meine Absicht, dieses Verbrechen zu begehen, dann vorher ankündigen sollen?«
Balkom steckte seinen leuchtenden Stab vorsichtig in einen Riß in der Wand und nahm dann den Edelstein zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Er hielt ihn hoch, so daß das Licht seines Stabes reflektiert wurde und winzige Lichtflecken über die Zellenwände tanzten. »Ein ungeschliffener Edelstein ist etwas Seltsames. Habt Ihr je einen gesehen?«
Delbridge schüttelte teilnahmslos den Kopf, doch Balkom fuhr fort: »Man sieht ihnen überhaupt nichts von der endgültigen Schönheit an, die wir so schätzen. Rauh, dunkel, formlos. Ein ungeübtes Auge würde ein unbezahlbares Juwel als wertlosen Stein abtun. Aber das geübte Auge, das sich mit Edelsteinen auskennt, sieht in dem unschuldigen Stein das, was er ist, wie gern er auch seine wahre Natur verbergen möchte.«
Er ließ den Edelstein in seine rechte Handfläche fallen und schloß die Finger darum. Delbridge erinnerte sich unklar daran, daß ihm aufgefallen war, daß dem Mann der rechte Daumen fehlte. »Wie bei einem ungeschliffenen Edelstein sind die Motive böser Menschen niemals klar und eindeutig.«
»Wie hätte ich Curstons Sohn wegzaubern sollen?« brachte Delbridge gequält heraus. »Ich bin kein Zauberer. Eure Magie hatte ich nie überwinden können.«
»Kommt schon«, entgegnete Balkom herablassend, »wir sind doch nicht dumm. Ganz sicher hattet Ihr Komplizen. Wenn Ihr selbst nicht gestehen wollt, dann sagt mir einfach ihre Namen. Eure Hilfsbereitschaft wird berücksichtigt werden, wenn das Urteil gefällt wird.«
»Ich bin unschuldig!« kreischte Delbridge, der an der Steinmauer herunterrutschte. »Wie soll ich mich verteidigen? Wenn ich etwas gestehe, dann glaubt Ihr mir, und ich bin verloren. Wenn ich sage, ich bin unschuldig, dann sagt Ihr, ich lüge. Warum seid Ihr überhaupt hier? Um mich zu quälen? Ich habe nichts Böses getan!«
Balkom stand ungerührt da und sah zu, wie Delbridge seine Knie umklammerte und sich auf den kalten Steinen vor und zurück wiegte.
»Ich bin hier, weil Lord Curston mich geschickt hat.« Delbridge sah den Magier ängstlich an, sagte aber nichts.
»Und ich bin auch hier, um meine eigene Neugier zu befriedigen. Offenbar war irgendeine Art von Magie im Spiel. Das geht mich auch etwas an.«
Balkom streichelte seinen Spitzbart. »Nehmen wir einmal an, Ihr hattet wirklich nichts mit dieser Untat zu tun. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß Ihr unschuldig seid, gibt es noch offene Fragen. Die Hauptfrage ist, woher wußtet Ihr, was geschehen wurde, bevor es eintrat? Wenn Ihr diese Frage zu meiner Zufriedenheit beantworten konntet, wurden sich Eure Chancen erheblich verbessern.
Wenn Ihr mir jedoch weiter trotzt und meinen Fragen ausweicht, dann kann ich genausogut auf der Stelle gehen und meinem Lehnsherrn Bericht erstatten. Welcher sehr nachteilig für Euch ausfallen wird.«
Delbridge hatte natürlich nicht vorgehabt, so zu tun, als wenn er in dieser Sache Oberwasser hatte, aber jetzt blieb ihm keine Wahl. Dieser Zauberer hatte nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen, wenn er Delbridge dieses Verbrechen anhängte, egal was sich tatsächlich abgespielt hatte.
»Ich habe Euch gesagt, was ich weiß«, seufzte er. »Ich habe die Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen. Es ist wirklich eine wundersame Gabe, und ich habe mich immer bemüht, sie nicht zu meinem Vorteil auszunutzen. Statt dessen habe ich Menschen geholfen, so gut ich konnte. Gestern habe ich versucht, Eurem Lord Curston zu helfen.«