Der hellhaarige Jüngling mit dem dünnen, blonden Schnurrbart sah sich um und versuchte, sich zu orientieren. Er nahm die bewußtlosen Phaetone wahr, den reglosen Zwerg und den Halbelfen auf der anderen Seite, den Kender neben ihnen und die verführerisch gekleidete weißhaarige Elfin.
Schließlich wandte er den Blick dem Zauberer seines Vaters zu. »Balkom?« fragte er den einzigen Menschen, den er hier kannte. »Was geht hier vor? Wieso bin ich hier?«
»Er hat dich in dem Stein eingesperrt!« schrie Tolpan.
Selana sah, wie der Knappe den Kender zweifelnd musterte. »Es ist wahr, Rostrevor. Hilf uns!«
»Sie lügen, Rostrevor«, sagte der Magier mit schmeichelnder Stimme.
Doch Rostrevor hatte den Zauberer seines Vaters noch nie gemocht und vertraute ihm nicht. Er griff sich einen Brocken der eingestürzten Wand und schleuderte ihn nach Balkom.
Da er Rostrevors Stein ausweichen mußte, sah Balkom nicht, wie der verwundete Riese mit seiner großen, haarigen Faust ausholte, bevor er auf dem Boden zusammenbrach. Der Schlag warf Balkom japsend und halb ohnmächtig an die Wand. Er erholte sich jedoch schnell wieder, doch der Aussetzer reichte, um Tanis, Flint und Nanda aus dem Griff seines Zaubers zu erlösen.
Augenblicklich zielte Tanis neu und schoß. Der Pfeil flog wie zuvor im Bogen durch den Raum und traf den zusammengesunkenen Zauberer unter den Rippen. Diesmal schrie der echte Balkom auf, mehr vor Wut als vor Schmerz. Ungläubig starrte er auf den gefiederten Schaft, der aus seiner Seite ragte. Seine rechte Hand fuhr auf den Rücken und entdeckte die bluttriefende Pfeilspitze. Mit einem kräftigen Zug riß er den Pfeil sauber heraus, um ihn dann trotzig zu zerbrechen.
Doch der Körper des Zauberers war nicht so stark wie sein Wille. Er sank auf ein Knie. Tanis legte einen weiteren Pfeil auf und zielte. Balkom entdeckte den Seelenstein, den er für die Meerelfin vorbereitet hatte. Erstaunlicherweise war der noch heil und wartete darauf, die Essenz einer Person aufzunehmen. Vielleicht konnte er noch in den Stein entkommen…
Als Tanis schoß, warf sich Balkom auf den Stein. Der Pfeil schoß oberhalb des Knochens durch die Schulter des Zauberers und traf dann die Wand dahinter.
Rote Lichtstrahlen brachen aus Balkoms Körper und erfüllten die Kammer mit gleißendem Licht. Alle wandten sich von dem blendenden Schauspiel ab und bedeckten schutzsuchend ihre Augen. Augenblicke später ließ die gleißende Helligkeit nach. Als sie wieder hinsahen, war Balkom verschwunden.
»Wo ist er denn hin?« fragte Tolpan augenzwinkernd. Vorsichtig näherten sich Tolpan, Flint und Tanis dem Altar. Tolpan suchte rechts und links und vorne und hinten nach dem verderbten Zauberer. Außer Blutspuren und zwei zerbrochenen Pfeilen war von Balkom nichts mehr zu entdecken.
»Sieht so aus, als ob wir versagt hätten und der Gegner entkommen ist«, knurrte Flint verärgert. »Ich hätte ihn nur zu gern zu seinem üblen Gott geschickt.«
»Ich glaube, wir haben Glück, daß so viele von uns überlebt haben«, sagte Tanis. Mürrisch stimmte Flint nickend zu, während er Selana losmachte.
Die Meerelfin kniete sich neben den verkohlten Körper des Riesen, doch Blu war tot. Der Blitzschlag des Zauberers hatte ihn umgebracht. Nachdem sie sich eine Träne aus den Augen gewischt hatte, berührte sie mit dem benetzten Finger seine Stirn – eine alte Dargonesti-Geste, um einem gefallenen Krieger die letzte Ehre zu erweisen. Neben seinem Körper sah sie das Kupferarmband liegen, das für ihren Bruder gemacht worden war, und sie schob es sich über das Handgelenk.
In der Zwischenzeit hatte Tolpan die Phaetone geweckt. Während sich die anderen auf den Aufbruch vorbereiteten, stöberte Tolpan noch in den Trümmern um den Altar herum. Er hob die doppelgesichtige Münze auf, die jetzt schwieg. Dann nahm er den Rubin, einen der größten, die er je gesehen hatte. Es kam ihm beinahe so vor, als könnte er hinter seiner facettierten Oberfläche etwas sehen…
Selana führte sie zum Haupteingang der Kammer, wodurch sie sich Balkoms Labor und die Steinminotauren ersparten. Als alle der Reihe nach die Kammer verließen, sah Flint sich noch einmal um und merkte, daß der Kender ganz versunken am Altar stand. »Laß das alles liegen, du Dummkopf! Willst du dich umbringen?« erregte sich der Zwerg.
»Immer mit der Ruhe«, rief Tolpan. »Was ist denn so schlimm?«
»Das ist böse, du Türknauf!«
»Oh, stimmt. Gutes Argument«, gab Tolpan zu. Rasch legte er den Rubin in die Einlassung auf dem Altar und wandte sich gerade zum Gehen, als ein Strahl Mondlicht den Edelstein berührte.
Tolpan glaubte, er hätte einen dünnen Schrei gehört, dem ein fernes, boshaftes Lachen folgte. Als er sich umsah, war da nichts. Achselzuckend folgte er den anderen.
Minuten später hatten sie die Höhle verlassen. Plötzlich ließ eine unterirdische Explosion den Hügel erzittern, und aus dem Höhleneingang drang Rauch.
Tolpan lächelte, weil ihm das fehlende Fläschchen einfiel. »Ich glaube, jetzt haben diese Golems die verschlossene Tür eingeschlagen.«
16
Ausbruch
Tolpan streckte sich unter einem kleinen Nachttisch aus, leckte sich die Pfoten und strich sein Fell glatt. Sein Schwanz fuhr gelassen hin und her. Das war ein angenehmes Gefühl, und er bedauerte es direkt ein wenig, daß Kender keine Schwänze hatten.
Er konnte immer noch nicht glauben, was er und Selana im Labor mitangesehen hatten. Eine sprechende Münze, die den bösen Gott Hiddukel darstellte! Er konnte es kaum erwarten, Tanis und Flint davon zu erzählen, besonders jetzt, wo Selana weggeflogen war. Sie hatte ihm noch eine telepathische Botschaft zukommen lassen, bevor sie durch den Luftschlitz in der Kammer des Magiers verschwunden war.
»Tolpan, ich folge ihm und hole mir mein Armband zurück«, hatte sie gesagt; Tolpan hatte es ihr nicht mehr ausreden können, denn sofort danach war sie nicht mehr zu sehen und außer Reichweite gewesen.
Also war Tolpan in einer richtigen Mäuschenpanik aus dem Labor des bösen Zauberers gehuscht, den Gang etwas hinuntergelaufen und dann unter der ersten Tür durchgeschlüpft, an der er vorbeikam. Er fand sich in einem Schlafzimmer wieder. Wahrscheinlich ein unbenutzter Raum, wie er beschloß, denn der Kamin war kalt, und in den Ecken wirbelten zahlreiche Blätter herum, wenn ein Windstoß durch das winzige Fenster drang. Dennoch machten die paar Teppiche auf dem Boden das Zimmer behaglich, und es schien ein gutes Plätzchen zu sein, um ein Pauschen zu machen und zu entscheiden, was er jetzt machen sollte.
Tolpans erste Entscheidung war, seine Mäusegestalt gegen etwas einzutauschen, wonach der Zauberer nicht Ausschau halten würde. Da die meisten Menschen anscheinend Katzen mochten, gab es in Tantallon jetzt eine weiß-braun-türkisblaue Katze mit einem ungewöhnlich langen Haarschopf am Hinterkopf.
Außerdem fand er es angebracht, noch eine oder zwei Minuten zu warten, bevor er allzuweit herumlief, nur für den Fall, daß jemand den Gang beobachtete. Tolpan putzte sich nach Katzenart, wobei er sich ununterbrochen fragte, ob er bei der Rückverwandlung in seine normale Gestalt auch wirklich sauberer sein würde.
Kurz darauf begann er, seine Lage genau zu überdenken. Kender sind tatsächlich zu analytischem Denken fähig, was allerdings nur wenigen Leuten klar ist. Unter den richtigen Bedingungen sind sie sogar recht gut darin, weil sie aber so leicht abzulenken sind, schaffen sie es selten, einen Gedankengang bis zu einer logischen Schlußfolgerung fortzuführen. Jedenfalls war es dem klaren Denken förderlich, wenn man pfotenleckend und friedlich schnurrend unter einem Nachttisch lag.
Er stellte sich selbst eine Frage: Wenn ich ein böser Zauberer und mit Hiddukel im Bunde wäre und mich in dieser Lage befände, was würde ich machen? Der Magier würde das Armband jetzt hüten, soviel stand fest. Und sie hatten einen großen Vorteil verspielt, indem sie ihm gezeigt hatten, daß sie das Armband wollten und daß sie ihre Gestalt verändern konnten.