»Was bist du?« fragte der Vater ohne Umschweife.
»Ich bin ein Kender, was sonst?« Tolpan trat freimütig vor und streckte die Hand aus. »Tolpan Barfuß, stets zu Diensten. Ich hätte da ein paar Fragen. Zum Beispiel habe ich noch nie im Leben von Phaetonen gehört.« Er musterte sie alle eindringlich. »Ihr seht so aus wie zu klein geratene Halbelfen. Denkt ihr das auch oder seht ihr Halbelfen eher als zu groß geratene Phaetone?« Da fiel Tolpan plötzlich etwas ein.
»Apropos Halbelfen, wo sind eigentlich meine Freunde? Kommen die nicht?« Er rannte wieder zum Fenster und sah nach draußen. »Himmel, der Flug über die Berge hat mich so in Bann gezogen, daß ich sie ganz vergessen habe. Ein paar von euch haben auch sie gerade rechtzeitig aus dem Fluß geholt – vielen Dank übrigens.« Er kicherte. »Flint mußten sie zu zweit tragen.«
»Deine Freunde sind in Sicherheit«, sagte der Mann, der in mittlerem Alter war. »Wir haben gleichfalls ein paar Fragen.« Damit ging die Mutter zum Herd und holte einen kleinen Topf, der über dem Feuer geköchelt hatte. Sie füllte einen irdenen Becher mit dampfender Flüssigkeit aus dem Topf und gab ihn ihrem Mann, der ihn seinerseits Tolpan anbot.
»Trink das.«
Tolpan schnupperte an dem Gebräu, verzog die Nase und senkte den Kopf. »Ich habe wirklich etwas Durst, danke, aber ich hätte lieber etwas Kaltes, wenn das geht.«
Der Vater drückte Tolpan den Becher an die Lippen. »Trink.« Der weißhaarige Phaeton starrte Tolpan mit seinen schwarzen Augen an.
»Wenn ihr drauf besteht«, erwiderte Tolpan hastig. »Etwas Warmes ist vielleicht ganz gut. Was ist das? Gift?« Wie gewöhnlich war der Kender eher fasziniert als erschrocken bei dem Gedanken, wie es sich anfühlen würde, wenn sich warmes Gift langsam in seinen Adern ausbreiten würde. Bekäme seine Zunge dann eine lila Färbung? Träten seine Augen hervor? Würde er gleich tot umfallen, oder würde es etwas dauern, so daß er noch um einen letzten –
»Das ist Tee«, unterbrach der Phaeton seine sich überschlagenden Gedanken. »Der wird dir helfen, unsere Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten.«
»Meine Güte«, sagte Tolpan, der aber doch etwas erleichtert war. »So etwas braucht ihr nicht, damit ich die Wahrheit sage. Ich erzähle euch gerne alles, was ihr wissen wollt.«
Der Phaeton runzelte die Stirn. »Trotzdem würden wir es vorziehen, wenn du den Tee trinkst. Er wird dir nichts tun« – er faßte seinen Stab fester – »ebensowenig wie wir, wenn du nichts zu verbergen hast.«
»Verbergen? Ich doch nicht«, sagte Tolpan. »Allerdings, einmal – ich trink’ ja schon«, sagte er eilig. Tolpan hob den warmen Becher hoch und nahm einen langen Zug von der dampfenden, blaßgrünen Flüssigkeit. Dann gingen seine Augenbrauen erstaunt hoch. Der Wahrheitstee war nicht annähernd so heiß, wie man vom Dampf her annehmen konnte, und er schmeckte ungefähr so, wie Gras wohl schmecken würde, wenn man es stundenlang vor sich hinköcheln lassen würde – stark, bitter, aber trotzdem erfrischend.
»Wer bist du, und woher kommst du?«
Aus reiner Neugier beschloß Tolpan, den Tee auf die Probe zu stellen, indem er eine Lüge erzählte. »Mein wahrer Name ist Lippenschmatzer Triefeimer – der andere ist nur ein Deckname.« Die Phaetone starrten ihn ungerührt an. »Ich bin der Kronprinz von Solamnia.« Immer noch keine Reaktion, weder von den Phaetonen, noch vom Tee.
Er schüttelte den Kopf. »Ich muß sagen, ich glaube nicht, daß dieser sogenannte ›Wahrheitstee‹ besonders gut wirkt«, gestand Tolpan. »Ich habe gerade ein paar faustdicke Lügen erzählt, und es ist nichts passiert – ich habe mich nicht verschluckt, und meine Nase ist auch nicht lang geworden wie in diesem Märchen.« Um Verwirrung zu vermeiden, entschied er sich für die Wahrheit.
»Ich bin nicht Lippenschmatzer Triefeimer«, bekannte er. »In Wirklichkeit bin ich Tolpan Barfuß. Und ich bin auch nicht mit der königlichen Familie von Solamnia verwandt, falls es eine gibt.« Nachdem er die Wahrheit gesagt hatte, fühlte sich der Kender irgendwie besser, auch wenn er nicht so recht wußte, weshalb.
Mit immer noch unbewegtem Gesicht zeigte der Phaetonenmann auf einen der Stühle am Feuer und wies Tolpan an, sich hinzusetzen, was der dankbar tat. Dem Kender kam es so vor, als wenn diese Phaetone die Angewohnheit hatten, ein bißchen zu viel zu starren, und das gab ihm das Gefühl, in Gefahr zu sein. Normalerweise gefiel ihm das, doch diesmal fühlte er sich dabei unbehaglich.
Der Phaetonenmann zog einen Stuhl vor Tolpan und sah dem Kender tief in die Augen. »Ich möchte wissen, warum du hier bist.«
»Tja, das wüßte ich selber gern«, erwiderte Tolpan. »Ihr habt mich schließlich hergebracht – wie wär’s, wenn ihr mich mal aufklärt?« Erwartungsvoll schaute er von einem Gesicht zum anderen, aber keiner schien ihm irgendwelche Erklärungen geben zu wollen. Das kleine Phaetonenmädchen kicherte, doch die Mutter brachte es mit einem strengen Blick zum Schweigen.
»Ich werde diese Frage noch mal stellen«, sagte der Mann. »Warum bist du in die Berge gekommen?«
Tolpan lächelte begreifend. »Ach, ihr meint nicht ›hier‹ hier, sondern ›hier‹ überhaupt. Das ist ein bißchen kompliziert, und ich sollte wirklich bald wieder bei meinen Freunden sein, darum werde ich es so kurz wie möglich machen.
Meine Freunde und ich – nämlich Tanis und Flint und Selana, bloß ist Selana nicht bei uns, weil sie hier irgendwo herumläuft und einen kahlköpfigen Zauberer mit einem Armband sucht –, aber zurück zu dem Armband, das Flint gemacht hat. Wir brauchen es für Selanas Bruder, bloß hat es der Zauberer genommen, wie ich schon sagte, und er will Rostrevors Seele Hiddukel vorwerfen – kann mir nicht vorstellen, wie das schmecken soll. Jedenfalls hat der Zauberer das Armband diesem Zombie abgenommen, bloß da war er noch kein Zombie, sondern nur ein Mann namens Delbridge, der nicht sehr ehrlich war – ›Dieb‹ wäre wohl das richtige Wort für ihn –, und der hat es von Gäsil, der ein ganz anständiger Kerl war, bloß würde ich ungern aus Versehen im Haus seiner Frau landen. Die scheint eine richtige Schreckschraube zu sein. Und der hatte es von mir, weil ich es zufällig hatte, nachdem wir das Gasthaus ›Zur Letzten Bleibe‹ verlassen hatten. Flint muß es wiederhaben, damit er es Selana geben kann, damit die es Semunel geben kann, weil der es braucht, weil er nicht die Zukunft vorhersehen kann.« Tolpan holte Luft. »So, ich glaube, das war’s so ungefähr.« Er schmatzte mit den Lippen und sah sich um. »Habt ihr noch mehr von dem Tee?«
»Nein!« sagte der Phaetonenmann schnell. Die beiden erwachsenen Phaetone beugten sich dicht zu dem weißhaarigen hin und berieten sich mit gedämpften Stimmen. Tolpan hörte sehr wenig, und was er aufschnappte, war in einer Sprache, die er nicht verstand.
»Du bist komisch«, sagte das kleine Mädchen zu Tolpan, zupfte an seiner Tunika und lächelte scheu.
»Oh, danke«, sagte Tolpan leicht verwirrt. Er erinnerte sich gar nicht daran, Witze erzählt zu haben. Aber wer wußte schon, was Phaetone zum Lachen brachte?
Er nickte zu den drei Erwachsenen hinüber. »Was reden sie da?«
Das kleine Mädchen zuckte mit den Schultern. »Sie überlegen, ob du am Leben bleiben darfst oder nicht.« Sie kam etwas näher und flüsterte: »Eindringlinge dürfen das normalerweise nicht, aber ich glaube, deine Chancen stehen besser als üblich.«
Tolpan schluckte langsam angesichts des hitzigen Disputs. Der weißhaarige Phaeton wirkte beunruhigt und schüttelte nach jeder Bemerkung der beiden anderen den Kopf. Sie schienen ihn von etwas überzeugen zu wollen. Schließlich schlug der jüngere Mann mit entschlossener Miene die Faust in die Handfläche. Der Alte schüttelte ein letztes Mal den Kopf und schaute aus dem Fenster, als ob er sich von aller Schuld freisprechen wollte. Der Jüngere drehte sich um und ging mit ebenso ungerührtem Gesicht wie zuvor zu Tolpan.