Er legte eine Hand auf seine Brust. »Ich bin Nanda Lokir, Oberhaupt unserer Siedlung. Das hier« – er zeigte auf den Weißhaarigen, – »ist Hoto Lokir-Ulth, in eurer Sprache mein Urgroßvater. Meine Frau und Beraterin, Cele Lokir, und unsere Tochter, Zeo.«
Tolpan nahm die Vorstellung als gutes Zeichen.
»Du bist ein sehr glücklicher Kender. Eigentlich richten wir jeden hin, der beim Verhör lügt.
Wir sind eine friedliebende Rasse, aber wir schätzen Ehrlichkeit und Zurückgezogenheit über alles. Die Wahrheit scheint dir wenig wert zu sein, und in Hotos Augen spricht das stark gegen dich, aber wir alle glauben, daß du und deine Freunde uns einen wichtigen Dienst erweisen können. Ich habe sie holen lassen, damit sie sich uns anschließen.«
Nanda ging zur Kochstelle. »Hast du vielleicht Hunger?«
Tolpan nickte eifrig. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zum letzten Mal gegessen hatte. Bevor sie nach Tantallon gekommen waren? Als er mit Selana über den Markt gerannt war? Nandas Frau, Cele, öffnete einen kleinen Vorratsschrank links von dem Herd. Sie zog ein hölzernes Brettchen mit einem goldbraunen, knusprigen runden Brotlaib hervor. Dann reichte sie Nanda eine große Schüssel mit einer Art Suppe. Er stellte sie zum Erhitzen in die Kohlen. Aus einem anderen Schrank nahm sie ein Stück frischer, sahnig weißer Butter. Nachdem sie das Brot aufgeschnitten hatte, in das ganze, leckere Körner eingebacken waren, bestrich sie es mit Butter und gab dem Kender eine Scheibe. Der riß die Augen auf.
»Das ist köstlich!« murmelte er, während er sich einen großen Bissen in den Mund stopfte. »Aber wenn man so weit oben wohnt, wo bekommt man dann die frische Butter oder auch nur die Kuh für die Milch her?«
»Wir schlafen und kochen in unseren hohen Häusern«, erklärte Cele, »aber wir arbeiten unten im Tal. Wir wollen uns nicht mit anderen Kulturen vermischen, darum versorgen wir uns selbst und stellen keine Waren zum Handeln her. Wir bauen Getreide, Obst und Gemüse an, züchten Schafe und Ziegen und halten Hühner und Kaninchen, auch wenn Zeo dauernd Kuscheltiere aus ihnen machen will.« Cele lächelte ihre kleine Tochter liebevoll an und streichelte ihr die langen Locken.
Nanda nahm die Schüssel mit der jetzt heißen Suppe vom Herd und füllte einen Teller mit reichlich orangeroten Möhren, grünen Zuckererbsen, ganzen Perlzwiebeln und kleinen Stückchen zartem Fleisch in leckerer, brauner Soße.
Tolpan fühlte sich wie im Himmel. Er hielt sich für einen echten Feinschmecker und war auch selbst ein ganz passabler Koch. Nach jedem Löffel schloß der Kender die Augen und genoß den köstlichen Geschmack, für den die genau richtige Menge frischer Kräuter sorgte.
»Hätte ich mir gleich denken können, daß er am Essen ist«, knurrte eine tiefe, vertraute Stimme. Tolpan schlug die Augen auf und sah Flint und Tanis mit drei weiteren Phaetonen in der Tür stehen. Der offensichtlich erleichterte Ausdruck in seinen Augen strafte die harten Worte des Zwergs Lügen. Nach dem neuerlichen Flug zupfte er seine Kleider zurecht.
»Ich freue mich, daß bei dir alles in Ordnung ist, Tolpan«, sagte Tanis, der zögernd von Tolpan zu den neben ihm stehenden Phaetonen schaute. Nanda nickte den Fliegern zu, und sie breiteten die Flügel wieder aus und flogen davon.
»Ihr könnt euch frei bewegen. Kommt, gesellt euch zu eurem Freund am Tisch«, sagte Nanda, der Tanis und Flint aus dem kleinen Vorraum in das Zimmer mit dem Herd winkte. Lächelnd legte Tanis dem Kender die Hand auf die Schulter, während Flint seinem Oberarm stirnrunzelnd einen leichten Puff versetzte.
»Ich bin Nanda Lokir«, sagte der Anführer der Phaetonen, der Tanis die rechte Hand entgegenstreckte. Der Halbelf reichte ihm die seine, doch der Herrscher schob die eigene Hand daran vorbei und ergriff den Oberarm des Halbelfen. Tanis begriff schnell und umfaßte seinerseits den Arm des Phaetons.
»Tanis, der Halbelf«, sagte er und nickte dann zu dem Zwerg hin. »Flint Feuerschmied.« Flint streckte die Hand aus, und Nanda stellte seine Familie vor. Der Alte hielt sich zurück, ignorierte ihre ausgestreckten Hände und nahm sie alle kaum zur Kenntnis. Tolpan bemerkte, wie Tanis und Flint sich verwirrt ansahen.
»Normalerweise töten sie Eindringlinge«, erklärte der Kender leise hinter vorgehaltener Hand, »aber bei uns machen sie eine Ausnahme. Nanda will, daß wir ihm irgendwie helfen, und ich habe den Eindruck, daß der Alte mit der ganzen Situation nicht glücklich ist.«
Der Halbelf wandte sich an Nanda. »Wir sind euch äußerst dankbar, daß ihr uns aus dem Fluß gerettet habt«, fing er an, »aber könntet ihr uns bitte sagen, warum wir festgehalten werden?«
»Und zwar ohne unsere Waffen?« fügte Flint hinzu. Tolpan merkte jetzt erst, daß sein Hupak und sein Dolch wie weggezaubert waren. Auch Tanis’ Bogen und Flints Axt fehlten.
Mit verschränkten Armen nickte Nanda. »Das werdet ihr alles zur rechten Zeit erfahren. Jetzt eßt erst mal. Ihr seid schwach vor Hunger.«
Obwohl sie verunsichert waren, konnten der ausgehungerte Halbelf und der Zwerg das nicht abstreiten. Sie griffen nach den Tellern, die Cele ihnen anbot, und aßen, während die Phaetone zusahen. Das leckere Essen spülten sie mit einem dunklen, vollmundigen Bier herunter, das so süß wie Milch schmeckte.
»Allerbestes Bier, nur noch von Zwergenschnaps zu übertreffen«, sagte Flint, als er seinen leeren Teller mit einem Rülpser zurückschob, der seinen Schnurrbart aufplusterte und die Krümel wegblies. Nachdem sie Cele gedankt hatten, sahen die drei aus Solace erwartungsvoll Nanda an.
»Wir leben sehr zurückgezogen«, begann das Oberhaupt der Familie und der Siedlung. »Bei den Phaetonen gilt das Gesetz, aus einer Gruppe Eindringlinge einen zu entführen und ihm einen Wahrheitstrunk zu verabreichen, um von ihm die Herkunft, das Ziel und das Vorhaben einer Gruppe zu erfahren. Wenn uns die Antworten mißfallen oder wenn wir Unwahrheiten darin entdecken, werden die Eindringlinge normalerweise getötet.
Mit dem Wahrheitstee enthüllte uns der Kender eine so schwindelerregend verwickelte Geschichte, daß wir wußten, daß sie nicht erfunden sein konnte. Außerdem hat er unser Tal überhaupt nicht erwähnt, sondern statt dessen gesagt, ihr wärt auf der Suche nach einer jungen Frau und einem Zauberer.« Um seine Worte wirken zu lassen, machte Nanda eine Pause. »Wir wissen, wo die beiden sind, und glauben, daß die junge Frau in großer Gefahr schwebt.«
»Ihr habt sie gesehen?« fragte Tanis, der sich besorgt vorbeugte.
»Hoto hat sie gesehen«, sagte Nanda mit einem Blick auf seinen Urgroßvater mit der Kupferhaut, der sich von der Gruppe fernhielt.
»Zuerst muß ich euch etwas erklären. Urgroßvater Hoto ist Verda, ein Ältester. Aus Gründen, die wir nicht verstehen, sterben manche Phaetone nicht an Altersschwäche. Statt dessen überkommt sie mit ungefähr neunzig Jahren – unserer normalen Lebenserwartung – der Wunsch, zur Sonne zu fliegen. Sie steigen immer höher und höher, bis entweder Erschöpfung oder Sauerstoffmangel oder beides sie das Bewußtsein verlieren läßt. Wenn sie wieder nach Krynn zurückfallen, findet eine wundersame Verwandlung statt. Sobald sie – immer noch viele tausend Fuß über der Erde – ihre Sinne wiedererlangen, entdecken sie, daß sie zu Verda geworden sind. Sie sind gewachsen, ihr Haar ist schneeweiß, die Spannweite ihrer Flammenflügel, ihre Beweglichkeit und ihre Ausdauer sind größer, während sie gleichzeitig weniger Nahrung, Wasser und Schlaf brauchen. Dann werden sie oft dreihundert Jahre alt.
Da sie von Natur aus Einzelgänger sind und abseits der Siedlung leben, dienen uns die Verda als Wachposten. Das erzähle ich euch, weil Urgroßvater Hoto den kahlköpfigen Zauberer schon seit Jahren einmal im Monat in die Berge fliegen sieht. Sein Ziel liegt genau vor der Grenze unseres Tals. Hoto ist schon lange davon überzeugt, daß er böse Absichten verfolgt.