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Selana verrenkte sich erfolglos, war jedoch erleichtert, daß sie sich mit den Ketten wenigstens hinstellen konnte. Bei den Göttern, sie wünschte, sie würde begreifen, in welcher Lage sie sich befand, aber sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was passiert war, nachdem sie sich zwischen die Felsen am Strom gekauert hatte. Ihr verletzter Arm war irgendwie geheilt, aber jeder Muskel im Körper tat ihr weh.

Plötzlich hörte die Meerelfin, wie an der engen Öffnung links etwas Schweres kratzte und zerrte. Dazu ertönte ein leises, kehliges Gestammel. Ihr Herz raste vor Angst. Mit gebundenen Händen fühlte sie sich furchtbar verletzlich und suchte verzweifelt einen Weg, wie sie sich verteidigen konnte. Sie konnte nur mit den Füßen treten, und auch das nicht sehr weit. Die ersten Silben eines Schutzzaubers gingen ihr durch den Kopf, aber sie war zu ausgepumpt, um sich an den ganzen Spruch erinnern zu können.

Das kratzende, schlurfende Geräusch hörte auf, und aus der Öffnung kam ein riesiger Kopf, der sich umschaute und in das Dämmerlicht blinzelte. Schwarze Augen blieben an Selana hängen. Das Wesen kroch weiter.

Die Meerelfin konnte sehen, daß es ein enormes, menschenähnliches Geschöpf war – ein Riese. Er konnte sich kaum durch die Öffnung quetschen. Auch in der Höhle konnte er sich nicht ganz aufrichten, sondern mußte sich ducken. Selana schätzte, daß er aufgerichtet mindestens sechzehn Fuß groß sein mußte und bestimmt mehrere tausend Pfund wog. Mit unsicherem, schwankendem Gang wackelte er langsam auf die Meerelfin zu, wobei seine langen Arme über den Boden schleiften. Unwillkürlich kauerte sich die Elfin zusammen, doch der Riese blieb fünf Fuß vor ihr stehen, weil die Höhle dort noch niedriger wurde und der Riese nicht näher kommen konnte.

Jetzt konnte sie auch erkennen, daß es ein männlicher Riese war. In der Hocke betrachtete er die blaßhäutige Meerelfin, wobei über sein hellbraunes Gesicht mit den pechschwarzen Augen ein enormes, zahnlückiges Lächeln glitt. Die Muskeln an seinen hängenden Schultern und am Hals waren stärker als Selana selbst. Die Elfin wurde sich des Gestanks nach verfaultem Essen und Dreck bewußt, doch ob das von seinem ungewaschenen Körper, den schwarzen Zähnen oder den verfilzten Häuten ausging, die er anhatte, konnte sie nicht feststellen. Sie atmete durch den Mund, damit ihr nicht übel wurde.

Die Meerelfenprinzessin wußte wenig über Riesen, nur daß es viele verschiedene Arten gab, so wie es viele Elfenrassen gab.

»Essen«, polterte er plötzlich und streckte ihr einen angeschlagenen Teller hin, der in seiner gewaltigen, narbenreichen Hand wie ein Spielzeug aussah. Seine Nägel waren gerissen und schmutzig; stellenweise bluteten sie.

Selana sah die undefinierbaren, gebratenen Fleischstücke an, aus denen halbe Knochen hervorstaken, ohne zu wissen, was sie tun sollte. Sie hatte keine Hand frei, um selbst zu essen, falls sie dieses Zeug überhaupt essen würde. Obwohl sie am Verhungern war, hatte die Prinzessin der Dargonesti nicht vor, ihr Gesicht wie ein Tier auf den Teller zu drücken.

Der Riese bemerkte ihr Zögern. »Nicht essen, Blu kriegen Ärger«, grunzte er, während er nach Worten suchte. »Balkom nicht lassen Blu gehen.«

Balkom! Die Meerelfin war gleichzeitig erschrocken und aufgeregt bei dem Gedanken, daß sie unwissentlich über den Schlupfwinkel des Magiers in den Bergen gestolpert war.

»Ist das dein Name? Blu?« fragte sie den Riesen.

Er nickte und zeigte dabei seine faulen Zähne.

»Und du arbeitest für Balkom?« fragte sie weiter.

Der Riese schien in seinem immensen Schädel nach der Antwort zu suchen. »Balkom sagen, wenn Blu finden viele glänzende Steine in Loch« – er zeigte auf die Öffnung, aus der er gekommen war – »Balkom machen Blu ganz kleinwinzig, und Blu gehen aus Höhle und zurück zu Hügelriesenhaus.« Als wenn er es zeigen wollte, zog er einen großen, scharfkantigen Stein aus den Tiefen seiner verdreckten Häute. Mitten in dem Brocken aus gewöhnlichem Gestein war ein matter, rötlicher Streifen aus glasartigem Stein – ein roher Rubin.

»Wie lange schürfst du schon für Balkom nach Edelsteinen?«

Der Riese zuckte mit seinen hängenden Schultern. »Balkom bringen Klein-Blu hierher für Arbeiten vor viel langer Zeit. Blu finden Steine, Minotaure bringen Essen. Blu arbeiten viel, aber er schlecht und werden viel groß.« Das Gesicht des Riesen nahm einen trübsinnigen Ausdruck an, und er schlug sich ärgerlich an den Kopf. »Jetzt sitzen fest.« Sehnsüchtig sah Blu sie an. »Blu vermissen Zuhause und Hügelriesenfreunde.«

»Wo ist Balkom jetzt?« fragte sie übergangslos.

Blu zuckte wieder mit den Schultern und sah zu der rechten Öffnung. »Er kommen von da. Manchmal Blu hören Sachen«, sagte er und zeigte auf die gegenüberliegende Höhlenwand zwischen den Öffnungen rechts und links.

Natürlich, sagte sie sich. Der Riese ist zu groß, um diese Höhle zu verlassen, und weiß nicht, was jenseits davon liegt, bis auf vage Erinnerungen an sein Zuhause. Die nächsten Worte wählte sie sorgfältig, damit sie möglichst viel Eindruck bei dem etwas dummen Riesen erzielten.

»Es ist nicht deine Schuld, daß du hier drin gefangen sitzt, Blu. Balkom hat dich angelogen, damit du weiter arbeitest. Er nimmt die Edelsteine, die du findest, um Seelen einzusperren« – viel zu kompliziert, dachte sie – »für sehr böse Sachen. Jetzt nimmt er gerade einen von den Steinen, die du gesucht hast, um einem Menschenknappen etwas sehr Schlimmes anzutun. Der Knappe ist in dem Stein gefangen, und Balkom will ihn einem bösen Gott geben, damit er dafür, tja – « Es würde ihr nie gelingen, dem Riesen zu erklären, was Balkom machte.

Selana änderte ihre Taktik. »Er ist ein böser Zauberer«, sagte sie einfach, während sie versuchte, den Blick des Riesen festzuhalten. »Er steckt Leute in die Edelsteine und läßt sie nie wieder raus.«

»Sie können nicht raus? Blu können auch nicht raus. Aber Balkom lassen mich viel bald raus, wenn Blu gut arbeiten und finden viele Steine.«

»Nein, das wird er nicht«, sagte Selana mit einem Kopfschütteln. »Er wird dich nie gehenlassen, Blu. Am Ende wird er dich auch umbringen.«

Blus Augen verdüsterten sich vor Zorn, und er schüttelte stumm den Kopf. »Balkom gut.«

»Er ist ein böser Zauberer!« beharrte sie, während sie gegen ihre Handschellen kämpfte. »Warum wäre ich sonst hier mit angeketteten Händen?«

»Balkom sagen, Frau gemein.«

Die zarte Meerelfin breitete die Arme so weit aus, wie es die Ketten erlaubten. »Sehe ich so aus, als wenn ich jemandem weh tun könnte, der so groß ist wie Balkom?«

Verwirrt watschelte der Riese rückwärts, schlug sich mit der Hand vor den Kopf und schluchzte.

»Blu«, sagte sie freundlich, aber mit Nachdruck. »Ich kann dir helfen. Wenn du mich nur losmachst, kann ich dich freilassen. Du brauchst nicht mehr im Dunkeln zu arbeiten, und du kannst deine Familie wiedersehen.« Sie streckte ihm die Handgelenke entgegen. »Tu’s einfach, Blu.« Mit klopfendem Herzen sah sie zu dem rechten Eingang. »Schnell!«

Blu war furchtbar aufgeregt. Er stieß mit dem Kopf gegen die Höhlendecke und wimmerte vor sich hin. Dann griff er nach Selanas Hals, als wollte er ihn wie bei einem Hühnchen brechen. Ihr stockte der Atem, und sie sagte sich, daß der Tod aus den gewaltigen Händen des Riesen ein weit besseres Schicksal sein würde, als das, was der Magier mit ihr vorhatte. In letzter Sekunde wich der unentschlossene Blu jedoch verwirrt schluchzend zurück und trat mit seinen riesigen, dicken Zehen mitten ins Feuer. Sein erschrecktes Aufheulen hallte durch die Höhle.

Da gefror ihm auf einmal sein langes Gesicht, und er legte den Kopf schief, um auf etwas zu lauschen. Seine Augen füllten sich mit Angst. »Sie kommen!« schrie er. Auf den Knien fuhr er herum und flüchtete mit rauchenden Füßen in den Tunnel, aus dem er gekommen war.