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Weil sie nicht wußte, was sie zu erwarten hatte, schaute Selana nach rechts zum Eingang. Sekunden nach Blus Flucht hörte sie ein stampfendes Geräusch, woraufhin zwei Minotauren den Raum betraten. Von den Hörnern bis zu den Zehen waren sie weiß und mit einem Netz pulsierender, roter Adern überzogen.

Die Untiere näherten sich ihr wie mechanisch, ohne nach rechts oder links zu sehen. Ihr wurde klar, daß es überhaupt keine Tiere waren, sondern magische Steingebilde, Golems. Mit ausgestreckten Armen und unbewegten Steinaugen marschierten sie direkt auf sie zu. Als der erste herankam, nahm Selana allen Mut und alle Kraft zusammen, setzte ihm den rechten Fuß auf den Bauch und trat mit aller Gewalt. Der Golem reagierte überhaupt nicht, sondern packte Selana und hielt ihre Arme fest. Das andere Gebilde nahm die Ketten in die Fäuste und riß sie so leicht auseinander, wie Selana einen Faden durchgerissen hätte.

Der Automat, der Selana hielt, warf sie sich mit dem Gesicht nach unten über die Schulter und schlang einen Arm fest um ihre Beine.

»Was macht ihr?« schrie sie. »Wohin bringt ihr mich? Laßt mich los!« Sie trat und trommelte wütend auf seinen Rücken ein, aber dabei tat sie sich nur selbst weh. Der Minotaurus trug sie durch den Tunnel zu einer annähernd kreisförmigen Kammer. Ungläubig sah Selana zu, wie die Wesen sich umdrehten und geradewegs auf ein ebenes Stück Wand zuhielten. Gerade als sie dachte, sie würden mit dem Fels zusammenstoßen, gingen sie mitten durch. Sie befanden sich in einem weiteren Tunnel.

Während sie den Gang hinunterliefen, bemerkte Selana ein schwaches Licht, das langsam stärker wurde, bis sie und ihre Begleiter den Eingang zu einem weiteren Raum erreicht hatten. Der war jetzt nicht mehr mit Blus verkommener, unfertiger Höhle zu vergleichen. Die Wände des eiförmigen Raums waren aus poliertem, rosa Granit. Säulen, offenbar natürliche Bestandteile dieser Höhle, wanden sich rund, spiralförmig vom Boden bis zur Decke. An jeder steckte eine brennende Fackel in einem Fackelhalter. In der Mitte war die Decke am höchsten und fiel an allen Seiten geschwungen ab. Ganz hinten im Raum war ein schön gearbeitetes Tischpodest aus dem Granit des Bergs gemeißelt.

Der Golem trug sie in die Mitte des Raums, wo er sie auf dem Boden abstellte.

»Hallo, meine kleine Zaubermaus.«

Die schleppende, tiefe Baritonstimme triefte von Verachtung. Selana schloß einen Augenblick niedergeschlagen die Augen, bevor sie nach rechts sah, wo die Stimme hergekommen war.

Der Magier trat hinter einer Säule hervor. Jetzt trug er eine schwarze Robe anstelle der roten, und auf seinem Kopf fehlte die Kappe mit dem Widderschädel. Eine schwarze, seidene Augenklappe bedeckte seine gräßlich vernarbte Augenhöhle.

»Willkommen in meinem – hmm«, hielt er inne und suchte nach dem rechten Wort.

»Schlupfwinkel?« spie sie aus, während sie darum kämpfte, das Zittern in ihrer Stimme zu beherrschen. »Ich sehe, Ihr habt Euch entschieden, die roten Roben nicht mehr zu verspotten. Wenigstens tragt Ihr jetzt eine Farbe, die besser zu Eurem verschlagenen Wesen paßt.«

Er lachte gackernd und ging auf sie zu. Die Absätze seiner Stiefel klackten auf dem kalten, glatten Steinboden und hallten in dem starren Raum nach. »Ich würde meinen, eine Frau in bedrängter Lage könnte etwas mehr Ergebenheit zeigen«, sagte er unbeeindruckt. Er langte mit der daumenlosen Hand nach vorn und fuhr über ihre zerrissenen Kleider. Seine Finger verharrten an der Stelle ihres blassen Halses, wo ihr Puls klopfte. Voller Abscheu fuhr die Meerelfenprinzessin zurück. Balkom lächelte nur.

»Mit etwas Wasser und Seife und einem anständigen Kleid wärst du direkt vorzeigbar«, sagte er, während er ihre schlanke Gestalt in der zerfetzten Kleidung betrachtete. »Genau besehen sind diese Lumpen auf primitive Art und Weise beinahe verführerisch.«

Selana schrak zurück, konnte aber weder seinem Blick noch seinen tastenden Händen entkommen.

»Du hast mir noch nicht dafür gedankt, daß ich deine Wunde geheilt habe«, sagte der Zauberer, während seine Fingerspitzen die frische, rosa Narbe an der Innenseite ihres linken Oberarms nachzufahren versuchten. Sie wich zur Seite, aber die Bewegung war schwerfällig und schmerzhaft, weil an ihren Handgelenken immer noch die Enden der schweren Ketten hingen. Balkom lachte wieder, was Selana vor stiller Wut zittern ließ.

Er lief vor ihr hin und her. Den rasierten Kopf hatte er gedankenverloren gesenkt, die Hände steckten in den glockenförmigen Ärmeln seiner schwarzen Robe. »Es erstaunt mich doch, daß ich noch immer nichts über deinen Begleiter weiß, die andere Maus, oder besser: den kleinen Kender.« Er sah sie durchdringend an. »Oder deinen Namen… Prinzessin.« Zu seiner großen Befriedigung zuckte sie zusammen.

Er verzog die roten vollen Lippen zu einem Lächeln. »Eine schlaue Vermutung meinerseits. Ich freue mich doch, daß sie wahr ist. Der Spruch, mit dem ich dein Armband untersucht habe, hat mir viel verraten, auch über dich. Am interessantesten war seine elfische Herkunft, auch wenn ich damals das Königreich noch nicht feststellen konnte. Das wurde natürlich klarer, sobald ich dich ohne Schal und Mantel gesehen hatte.«

Balkom stand genau außerhalb ihrer Reichweite und schob jetzt den Ärmel seiner rechten Hand hoch, um das Kupferarmband vorzuzeigen. Er neigte es zu den niedrigen Fackeln hin. »Hübsch, wie die Bernsteine das Licht des Feuers einfangen, nicht wahr? Für mich ist das eigentlich nur Tand, aber es wird mir Spaß machen, so ein schönes Stück zu besitzen – hat doch wohl der grauhaarige Zwerg gemacht? Wie schade, daß ein so geschickter Künstler nicht mehr arbeiten wird.« Balkom schüttelte mit spöttischem Bedauern seinen kahlen Kopf.

Mit der Wut der Besiegten versuchte Selana, das Armband zu erwischen, aber ihr Arm war viel zu kurz. Während sie das für Semurel gemachte Armband zum ersten Mal aus der Nähe sah, bildete sich in Selanas Hals ein dicker Kloß. Sie war enttäuscht. Balkoms Gestalt verschwamm vor ihren Augen, als sie vergeblich gegen die Tränen ankämpfte.

Du hattest recht, Sem, sagte sie sich. Ich bin für so etwas nicht geschaffen. Ich bin nicht stark genug. Zumindest was das angeht, konntest du doch die Zukunft vorhersehen…

»Komm schon, Prinzessin«, Balkoms ungeliebte Stimme drängte sich in ihre Gedanken. »Haben dich die Widrigkeiten der letzten Zeit etwa weich und weinerlich gemacht? Ich habe deinen Kampfgeist so bewundert. Die Sprüche zum Beispiel, mit denen du unter Burg Tantallon gekämpft hast, waren zwar in ihrer Macht begrenzt, aber genial ausgesucht. Ich bin schon sehr lange keinem mehr begegnet, der eine Herausforderung dargestellt hat.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Irgendwie schade, daß du nie mehr zaubern wirst. Wenn ich dich nicht so dringend und unwiderruflich für etwas anderes brauchte, könnte ich dich in meiner neuen Stellung als Lehrmädchen annehmen.« Wieder wartete Balkom auf ihre Reaktion, doch Selana zeigte nur Verwirrung.

Balkom ärgerte sich. Er warf sich in die Brust und verkündete mit hochmütiger Stimme: »Wie du mit deinen Mäuseohren mitbekommen hast, werde ich heute nacht Ladonnas Platz in der Versammlung der Zauberer einnehmen.«

Die Meerelfin lachte.

Balkom schlug zu.

Selana taumelte gegen eine Säule und glitt auf den Boden, wo sie sich mit dem Handrücken ein dünnes Rinnsal Blut von den Lippen wischte. Obwohl sie zunächst überrumpelt war, fühlte sich die Meerelfenprinzessin jetzt stärker. Sie hatte einen Riß in Balkoms Rüstung entdeckt.

»Ach, das«, sagte sie leichthin. »Wenn ich mich recht erinnere, schien mir doch, daß Hiddukel Euch nichts zugesagt hat, außer daß er sich den Vorschlag überlegen will.« Sie lächelte herablassend. »Seht es doch ein, Balkom. Es wird nie soweit kommen. Hiddukel sprengt doch nicht die ganze Versammlung für eine armselige Knappenseele, egal wie rein die ist.«