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Thomas Bindig erwachte, als es bereits spät am Abend war. Er fühlte die Kälte in all seinen Gliedern und hob langsam den Kopf. Der Helm lag neben ihm, und der Lauf der Maschinenpistole zeigte genau in sein Gesicht. Er schob ihn gedankenlos beiseite und richtete sich auf. Die Zweige der Sträucher, zwischen denen er lag, hingen ihm ins Gesicht. Er bewegte die erstarrten Finger, und dann hörte er neben sich die Stimmen. Es war Timm, der sich mit Zado unterhielt. Er sah sie im gleichen Augenblick, sie hockten am Rand der Mulde und starrten auf die Ebene zwischen den Seen hinaus. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, und aus ihrem seltsamen Benehmen konnte er nicht klug werden. Sie beachteten ihn nicht, als er zu ihnen kroch, und er hockte sich neben Timm und fragte: »Warum habt ihr mich so lange schlafen lassen?« Timm antwortete nicht auf die Frage. Er reckte den Kopf und sagte leise zu Zado: »Wir müssen ihn holen. Er sitzt mitten auf dem freien Feld. Wenn er sich eine Zigarette anbrennt, wird man es bis Moskau sehen…«

»Was ist?« erkundigte sich Bindig. Er fühlte sich ausgeschlafen und erfrischt. Nur ein wenig durchgefroren.

»Wir sollten immer ein Glas mitnehmen«, sagte Zado. »Du siehst, daß man es manchmal braucht. Ob er der einzige ist, der davongekommen ist?«

»Möglich«, antwortete Timm. »Jedenfalls ist es der Kleine. Er muß etwas abgekriegt haben…«

Bindig konnte die Gestalt nicht erkennen. Er strengte seine Augen an, aber er sah an der Stelle, wo die anderen die Gestalt sitzen sahen, nur einen dunklen Brocken auf der Erde liegen. Es war schon zu dunkel, um mehr zu erkennen.

Zado blickte ihn an und fragte: »Ausgeschlafen?«

»Ihr habt mich den ganzen Tag schlafen lassen…«, sagte Bindig vorwurfsvoll. »Was war los?«

»Nichts. Bis vorhin, als der Kleine auftauchte.«

Es war der Oberkellner aus Stuttgart. Sie hatten ihn schon von weitem gesehen, wie er, an den Saum der Büsche gedrückt, die den See umgaben, heranschlich. Sie hatten ihn beobachtet, aber nicht angerufen, weil sie nicht wußten, ob er verfolgt wurde. Doch offensichtlich wurde er nicht verfolgt. Er war ein paar hundert Meter von ihrem Versteck zu Boden gefallen und liegengeblieben. Ein dunkles Bündel, mit einem Stahlhelm bedeckt, das Gesicht noch rußgeschwärzt von der letzten Nacht.

Als Zado an ihn herankroch, hob er blitzschnell die Maschinenpistole, doch er ließ sie sofort wieder sinken, einen erstaunten, angstvollen Ausdruck in seinem schmutzigen Gesicht. Er riß den Mund weit auf, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen über die Lippen. Seine Augäpfel waren rot geädert, die Lider verschwollen. Die Lippen zuckten wie bei einem Kind in den Sekunden, die einem quäkenden Weinen vorangehen. Er blickte Zado mit irren Augen an. Er zitterte am ganzen Körper. Zado legte ihm die Hand auf den Ellbogen und sagte ruhig: »Kleiner… ich bin’s! Komm! Noch ein Stückchen…«

Da erst sah er das Blut. Er packte schnell zu und besah sich die Wunde. Der Oberkellner stöhnte und knirschte mit den Zähnen. »Ruhig…«, sagte Zado leise, aber energisch, »ganz ruhig, Kleiner, sonst wird Vati böse!«

Es hatte ihm den linken Oberarm aufgerissen. Die Tarnjacke war bis zum Handgelenk blutig und wies an der ganzen linken Leibseite dunkle, feuchte Flecke auf. Oben, unweit der Schulter, war sie zerrissen. Das Unterzeug war blutverkrustet. Die Wunde war groß. Sie hatte schmutzige, zerfranste Ränder. Zado sah auf den ersten Blick, daß der Knochen nicht verletzt war. Es war eine riesige Fleischwunde, eine Splitterwunde, kein Geschoß. »Handgranate?« erkundigte er sich.

Der Verletzte stöhnte. Als Zado die Stoffetzen von der Wunde nahm, öffnete er den Mund und wollte einen Schrei ausstoßen. Aber Zado verband nicht den ersten Verwundeten. Er hielt ihm die flache Hand auf den Mund, und der Mann brachte nichts weiter heraus als ein dumpfes Gurgeln.

»Ruhig…«, sagte er wieder, »gleich ist’s vorbei. Dann kommt bald die Tante Ju, und wir fliegen heim zu den Mädchen…«

Er sah, daß im Ärmel ein Verbandpäckchen hing. Der Verletzte mußte es sich selbst umgewickelt haben, aber es hatte nicht fest genug gesessen und war verrutscht. Zado riß sein eigenes Verbandpäckchen auf und legte es auf die Wunde. Es reichte nicht aus, denn der Splitter hatte einen großen Fleischfetzen herausgerissen. Zado band den Mull provisorisch fest, und dann sagte er zu dem Verletzten: »Ganz ruhig jetzt. Da vorn ist ein Versteck. Ich bringe dich hin. Hast du Schmerzen?«

Der Oberkellner stöhnte. Aber die Verletzung war nicht so schwer, daß er nicht hätte gehen können. Als Zado ihn aufheben wollte, richtete er sich von selbst auf und stellte sich auf die Füße.

»Komm«, forderte Zado ihn auf, »halt dich an mir fest.« Er hob sich den Arm des Soldaten über die Schulter. Der Mann torkelte. Er muß unheimlich viel Blut verloren haben, dachte Zado. Wie er es nur gemacht hat, daß sie ihn nicht erwischt haben?

Sie brachten ihn zwischen den Büschen unter und verbanden ihn. Sie steckten ihm die Schokolade, die er in den Taschen hatte, in den Mund und fütterten ihn mit den stockig schmeckenden Kraftkeksen. Dann gaben sie ihm ihre Schmerzlabletten. Es waren winzige, weiße Perlen, die bitter schmeckten. Aber sie waren so stark, daß sie den unerträglichsten Schmerz für einige Zeit milderten und erträglich machten. Sie .steckten ihm die Tabletten in den Mund, und Timm hielt ihm die Wodkaflasche an die Lippen, die er noch immer in der Hosentasche hatte. Der Oberkellner trank, als wäre es Wasser. Er spülte die bitteren Tabletten mit dem scharfen Schnaps hinunter und legte dann den Kopf zurück. Die drei anderen saßen schweigend dabei. Aber er sprach erst, nachdem die Tabletten gewirkt hatten. Er räusperte sich und sagte mit schmerzverzerrten Mundwinkeln: »Gebt mir noch Wodka…«

Timm hielt ihm die Flasche hin. Der Verletzte richtete sich auf und nahm die Flasche mit der rechten Hand. Er trank, ohne abzusetzen, und als er Timm die Flasche zurückgab, mochte er mehr als ein Viertelliter getrunken haben.

»Junge, du wirst blau sein wie eine Strandhaubitze«, sagte der Unteroffizier. Aber der Verletzte schüttelte den Kopf. »Die Schmerzen. Das Zeug ist gut gegen Schmerzen«, sagte er heiser. Dann verlangte er eine Zigarette. Er verdeckte die Glut mit der hohlen Hand und starrte vor sich hin. Timm hielt noch immer Ausschau am Rande der Mulde. Nach einiger Zeit sagte der Verletzte leise: »Du brauchst dir nicht die Augen anzustrengen, Klaus. Es kommt keiner mehr. Die anderen vier sind tot.« Er senkte den Kopf und zog an der Zigarette.

»Alle?« fragte Timm. »Oder ist noch einer verwundet? Vielleicht kommt noch einer. Du bist auch gekommen!«

»Nein!« sagte der Verletzte. »Es kommt keiner mehr. Sie sind tot. Sie sind bereits begraben. Ich habe gesehen, wie sie sie begraben haben.«

Er sprach mit schwerer Zunge, als bereite ihm das Sprechen Schmerzen. Er war matt und ausgeblutet. Nur der Schnaps hielt ihn aufrecht.

»Ihr seid in die Bereitstellung hineingelaufen?« fragte Timm. »Sie war verflucht gut versteckt. Ich habe sie auch erst im letzten Augenblick gesehen.«

Der Verletzte nickte. Dann ließ er sich wieder zurückfallen und sprach liegend, ohne die anderen anzusehen, weiter.

»Ich war allein. Ich war hinter den anderen. Nicht auf dem gleichen Weg, aber nicht weit davon weg. Ich habe es genau gesehen. Die beiden vor mir standen mit einemmal vor dem Posten. Er schoß sofort. Sie erschossen ihn, aber es war noch ein zweiter da, und der war versteckt. Der erschoß sie beide. Dann war das ganze Lager wach. Aber sie kümmerten sich nicht um die Toten. Sie suchten zuerst den Wald ab. Die beiden anderen von uns kamen auf die Schüsse hin zu uns gelaufen. Sie wollten uns helfen. Aber das war ihr Fehler. Es dauerte eine halbe Stunde, dann war das Gefecht entschieden. Tot. Alle.«