Er legte sich auf die Seite und schloß die Augen. Die anderen sagten nichts. Es war dunkel geworden. Der Himmel war klar wie am vorangegangenen Tag. Die Sterne waren noch blaß, aber sie nahmen von Minute zu Minute an Leuchtkraft zu. Es war still hier zwischen den Seen. Am Nachmittag hatte es ab und zu in der Ferne Motorengeräusche gegeben, aber sie waren nur leise und undeutlich hörbar gewesen. Irgendwo, auf der Straße, spielte sich der Verkehr ab.
»Wenn ich nur wüßte, ob sie noch suchen«, sagte Timm leise. Er dachte bereits an die Maschine, die hier landen würde. Gewiß, es würde schnell gehen, und sie würden wenige Minuten später wieder in der Luft sein. Aber es war ungewiß, ob sich nicht irgendwo zwischen den Seen Streifen herumtrieben.
»Nein«, sagte der Verletzte, »sie suchen nicht mehr. Sie haben damit aufgehört. Bis Mittag haben sie gesucht. Dann haben sie aufgehört. Sie haben nur die Posten verdoppelt.«
»Und du?« erkundigte sich Timm. »Wie hast du es angestellt, daß sie dich nicht erwischt haben? Wie hast du das alles sehen können, ohne daß sie dich fanden?«
Der Verletzte bewegte leicht den linken Arm. Er verzog wieder das Gesicht dabei, und Timm fragte: »Tut es noch weh? Willst du noch Tabletten?«
»Es geht«, sagte der Verletzte, »den Tag über war es schlimmer. Sie haben mich nicht gesehen. Ich ging hinter den anderen. Als es knallte, stieg ich auf einen Baum. Ich war weit zurück, aber dann, als ich oben war, zogen sich die anderen zurück. Bis beinahe unter meinen Baum. Ich habe dort oben gehockt, und unten schossen sie einander tot. Es ging hin und her. Von links waren es Becker und Flix. Sie schossen ihre Magazine leer, aber hübsch langsam, so daß es lange vorhielt, was sie an Munition in den Taschen hatten. Zuletzt hatten sie nur noch die Pistolen. Und dann die Messer. Aber dazu kamen sie nicht. Die Russen hatten sie eingekreist, und sie hatten keine Chance mehr. Sie deckten sie mit Handgranaten zu, und das war das Ende. Mittag haben sie alle vier begraben. Tot. Aus.«
»Und du?« fragte Timm.
Der Verletzte hob den Kopf. Seine Augen glänzten. Er hat Fieber, dachte Bindig, er wird in ein paar Stunden einen Schüttelfrost haben und niemand mehr kennen.
»Ich?« sagte der Verletzte. »Ich habe in meinem Baum gehangen und nichts getan. Ich war froh, daß sie mich nicht sahen. Sie hatten diese verfluchten schwarzen Teufelskappen auf. Panzermänner. Kerle wie Bäume. Sie haben Becker und Flix begraben und die anderen beiden auch. Die hatten sie ein Stückchen weiter links erwischt. Der Wald war voll von diesen Teufelskappen. Sie ließen keinen Winkel aus, aber sie fanden nichts mehr. Ein Glück, daß sie keinen Hund hatten. Ein einziger lumpiger Köter, und ich wäre jetzt nicht hier…« Er verstummte und ließ den Kopf wieder sinken. Das Fieber begann ihn zu schütteln, Timm hielt ihm wieder die Wodkaflasche hin. Er spürte, wie die Zähne des Verletzten an den Flaschenhals schlugen.
»Junge«, sagte Timm, »wenn wir nach Hause kommen, werden sie uns anscheißen, weil wir vier Mann verloren haben!«
»Aber die Brücke ist nicht mehr«, sagte Bindig, »das sollen sie uns erst nachmachen. Die Brücke war kein Kinderspiel.«
»Sie haben sie begraben«, flüsterte der Verletzte im Fieber.
»Gib ihm Schnaps«, forderte Zado.
Timm hielt ihm wieder die Flasche hin. Er sagte: »Hattest du den Weg im Kopf? Hast du gleich gefunden?«
Er bekam keine Antwort. Der Verletzte schluckte. Lange Zeit später flüsterte er: »Die Maschinenpistole ist von Flix. Er hat sie beim Zurücklaufen verloren. Er war schon angeschossen und lief ganz krumm. Im Bauch, glaube ich. Ich habe sie heute nachmittag aufgehoben, als ich davonschlich…«
Er preßte die Zähne aufeinander. Das Fieber schüttelte ihn. »Jesus Maria, gib ihm Schnaps!« sagte Zado. »Gib ihm Schnaps, die Maschine kommt erst in ein paar Stunden.«
Bindig brannte Zigaretten an und gab jedem eine. Der Verletzte rauchte hastig, in langen, tiefen Zügen. Die Zigarette wurde feucht in seinen Fingern, so schwitzte er.
»Was war das?« fragte Bindig, auf den Oberarm deutend. »Handgranaten?«
»Ja…«, hauchte der Verletzte. Die Zähne schlugen aufeinander, während er sprach. »Sie warfen diese verfluchten Handgranaten, und die Splitter surrten mir um die Ohren. Es war ein großer Splitter, das Blut tropfte von oben herunter auf die Erde. Und ich konnte das Verbandpäckchen nicht erreichen, ich mußte mich festhalten. Mit einer Hand. Und abwärts auch. Es ist… Habt ihr noch was von diesen beschissenen Tabletten…«
Als es Zeit war, daß die Maschine auftauchte, sagte Zado zu Timm: »Jetzt fehlt weiter nichts, als daß die Maschine nicht kommt…« Timm hatte die Leuchtzeichen aufgestellt. Er hockte neben Zado am See und wartete auf das Motorengeräusch, um die Magnesiumfackeln anzubrennen. Gut, daß ich sie bei mir hatte und nicht einer der anderen, dachte er. Die Junkers würde umkehren und heimfliegen, wie ich diese Piloten kenne.
Es war kalt geworden. Die Luft war frostklar und frisch. Jetzt, in der Dunkelheit, schienen die Geräusche von der Landstraße näher gerückt zu sein. Aber es waren nicht viele Geräusche. Ab und zu ein einzelnes Fahrzeug, dann wieder eine kurze Kolonne. »Wenn die Maschine nicht kommt, baue ich mir hier eine Hütte und jage Enten«, sagte Zado. »An diesen Seen gibt es immer Enten. Ich schieße Enten und bringe sie dem russischen Kommissar. Vielleicht verschafft er mit eine Flugkarte nach Deutschland.«
Er wartete darauf, daß Timm grinste, aber Timm grinste nicht. »Scheiße!« sagte er schließlich mürrisch. »Wir sind der traurigste Haufen der gesamten großdeutschen Wehrmacht. Es gibt keinen traurigeren Haufen mehr als uns. Wenn es noch ein Vierteljahr so weitergeht, werden sie uns bis auf den letzten Mann verheizt haben. Sie denken, wir paar Leute können das schaffen, was die ganze Armee nicht geschafft hat,«
»Was?« fragte Timm zerstreut.
»Die Russen aufhalten«, sagte Zado. »Die Russen aufhalten und Stalin gefangennehmen. Kurz vor Berlin. Vielleicht in Berlin, vor der Scala.«
»Noch sind sie nicht in Berlin«, sagte Timm dumpf.
»Aber sie werden bald dort sein«, sagte Zado. »Neulich haben sie ein Flugblatt abgeworfen, da schrieben sie, daß sie Berlin erobern werden und den Nationalsozialismus zerschlagen und die Kriegsverbrecher zerschlagen und die Gefangenen aus den Konzentrationslagern befreien und die Demokratie einführen werden. Sie haben sich eine Menge vorgenommen. Weißt du, was Kriegsverbrecher sind? Oder was Demokratie ist?«
»Nein«, sagte Timm kopfschüttelnd, »ich bin Soldat. Und du solltest über solchen Unsinn lieber dein Maul halten.«
»Ich weiß nicht«, sagte Zado, »es geht mich ja nichts an, aber neulich haben sie ein Flugblatt abgeworfen, da stand ein Gedicht drauf. Der Führer kann es nicht einmal mit Weibern, stand da. War schön gereimt. Der Dichter soll mal in Berlin gelebt haben…«
»Ich kenne keine Dichter«, sagte Timm, »ich bin Soldat, und mir ist es egal, ob es der Führer mit Weibern kann oder nicht. Solange Krieg ist, wird gekämpft. Wenn er vorbei ist, werden wir eine andere Aufgabe bekommen.«
»Wenn du dann noch lebst«, sagte Zado. »Es sieht nicht danach aus. Wenn die an den Sturmgeschützen ihre Satanskappen aufsetzen und in Richtung Berlin abrauschen, dann sind wir dagewesen.«
»Spekuliere nicht so viel«, sagte Timm, »du verstehst davon nichts. Und nimm dich in acht, wenn du deine Flugblattweisheiten ausplauderst. Es heißt nicht jeder Timm. Manche heißen anders, und die wissen auch, wo die Feldgendarmerie wohnt.«
Zado holte aus der Wadentasche die Blechflasche mit dem Kognak. Er hielt sie Timm hin und sagte: »Da, trink einen Schluck. Es ist eine verfluchte Zeit. Man hockt hier an diesem See und weiß nicht, was man von der Welt halten soll. Und das von Hitler und den Weibern habe ich nur zu dir gesagt.«