»Sie zerschießen mir die Maschine…«, sagte der Melder. »Sie zerschießen mir die Maschine, und ich muß zur Infanterie…«
Sie werden nicht nach den beiden suchen, dachte Zado. Auf das Minenfeld können sie sowieso nicht, und übrigens ist die Sache auch sonnenklar: Die beiden wollten sich den Weg abkürzen und sind auf die Mine gefahren. Sie hatten vergessen, daß ich sie davor gewarnt hatte. Ich war ja schon auf dem Heimweg, denn sie entließen mich, als sie den Weg nicht mehr verfehlen konnten, und ich fuhr mit dem Melder weiter. Ich sah sie verkehrt fahren und wollte sie noch retten, aber es war zu spät, sie waren schon mittendrin. Unvorsichtige Burschen. Wer wird da schon etwas anderes vermuten. Schlimmer, wenn sie irgendwo hier im Wald lägen mit einer Pistolenkugel im Kopf.
Aber so – kein Mensch wird argwöhnisch werden. Es ist ein ganz natürlicher Vorfall. Das gibt es hundertmal und öfter. Ob es deshalb so leicht gewesen ist? Oder weil es um Bindig ging? Zado zog an der Zigarette und blickte versonnen auf das Einstiegsloch.
Die Einschläge lagen jetzt weiter entfernt. Das Feuer wanderte nach hinten. Die flackernden Lichter waren schwächer, sie erhellten die Gegend um den Unterstand nicht mehr.
»Wenn bloß die Maschine nicht kaputt ist…«, sagte der Melder. »Ich habe keine Lust zur Infanterie…«
Ob Bindig Angst hat? fragte sich Zado. Er wird keine Angst haben. Es wird ihm egal sein, was sie mit ihm machen. Bei Licht besehen, können sie uns gar nicht mehr erschrecken. Mit nichts. Wir sind an das Schlimmste gewöhnt. Vielleicht ist die Strafkompanie dagegen eine Erholung. Vielleicht. Es ist nicht gewiß, denn es ist von dort noch keiner zurückgekommen. Aber immerhin ist es möglich. Ich werde Bindig nichts davon sagen, daß ich die beiden in die Minen gelotst habe. Es ist gut, wenn es niemand außer mir weiß. Bindig würde nie ein Wort davon verlauten lassen, das ist sicher. Aber ich werde es ihm trotzdem nicht sagen. Sonst bildet er sich dauernd ein, daß er sich erkenntlich zeigen muß. Unsinn, erkenntlich zeigen! Er soll lieber lernen, die Schnauze zu halten und sich zu beherrschen. Ein Feldgendarm, mit dem man Streit bekommt, muß fünf Minuten später tot sein, oder man ist selber ein toter Mann. Das muß er endlich einsehen, der liebe Bindig. Es ist nicht der erste Feldgendarm, der an dieser Kante umgelegt wurde. Es gibt zu viele von ihnen hier herum.
Schörner hat hinter jeden Soldaten einen Feldgendarm gestellt. Bloß in der Luft hat er keine. Dafür aber auf den Flugplätzen. Hinten, in den Dörfern, surren sie mit Volkswagen herum wie die aufgescheuchten Hummeln. Hitler hat gesagt, das letzte Bataillon, das nach diesem Krieg marschiert, wird ein deutsches sein. Voraussichtlich wird es aus Feldgendarmen bestehen.
»Gib mir noch eine Zigarette…«, bat der Melder. Er rückte an Zado heran. »Wenn bloß an der Maschine nichts kaputt ist! Am schlimmsten ist es, wenn der Tank und die Leitungen was abgekriegt haben. Der Zylinder geht von Splittern kaum kaputt, aber das andere Zeug…«
Zado gab ihm eine Zigarette und lehnte sich zurück. Dabei sagte er: »Ich glaube, es nimmt ab. Die Spucker haben schon aufgehört.« Es stimmte. Die Granatwerfer schwiegen. Nur die Siebzehnzwo schossen noch. Aber auch ihr Feuer wurde schwächer. Zwischen den einzelnen Einschlägen, die weit entfernt lagen, hörte man Verwundete schreien. Zado dachte wieder an die beiden in dem Minenfeld. Sie sind unerhört schnell gestorben, dachte er. Sie wissen nichts mehr von diesem Feuer. Sie haben überhaupt nichts gewußt. Ihnen wäre es zu gönnen gewesen, ein paar Stunden mit aufgerissenem Leib im Wald zu liegen. Er schüttelte den Kopf. Wie leicht es einem fällt, solche wie diese zu töten, dachte er. An die beiden Russen, die in der Bahnwärterbude schliefen, werde ich noch monatelang denken müssen. Aber an die…
»Du…«, erinnerte ihn der Fahrer, »das mit den Zigaretten brauchst du nicht zu machen. Ein paar Schachteln genügen. Und eine Schachtel Schokolade. Ich will dich nicht ausnehmen. Schließlich kostete es mich ja nichts, als ich dir die Maschine gab. Aber ein paar von den Pervitintabletten… wenn ich manchmal in der Nacht fahre. Sie geben uns keine. Wenn es nach unserem Chef geht, kannst du auf dem Sattel einschlafen, Hauptsache, die Meldung kommt an…«
»Du bekommst welche«, versprach Zado, »ich werde dir eine ganze Handvoll geben, denn ich nehme die Dinger niemals, und wir bekommen bei jedem Einsatz frische.«
Als das Feuer verstummte, schoben sie die Maschine wieder auf den Weg. Sie hörten Fahrzeuge durch den Wald brummen. Hin und wieder rief irgendwo eine Stimme nach dem Sanitäter. Weiter rechts rumorten noch kleinere Kaliber. Von dort kam auch vereinzeltes Gewehrfeuer. Dazwischen stiegen Leuchtkugeln über den Wald und segelten langsam wieder abwärts. Der Meldefahrer trat die Maschine an. Er horchte ungläubig auf den Motor, der sofort störungsfrei lief. Er suchte mehrere Minuten nach der Stelle, an der der Splitter aufgeschlagen war, den sie gehört hatten, aber er fand nichts.
»Zu dunkel!« schrie er Zado ins Ohr. »Wird nicht viel gewesen sein. Jetzt aber nichts wie fort!«
Sie fuhren an einer Kette von Fahrzeugen vorbei, die langsam heranrollten. Es waren Mannschaftswagen. Über die Sitze waren Bahren gelegt.
»Muß ganz schön ’reingehauen haben…«, rief Zado, aber der Fahrtwind riß ihm die Worte vom Mund, und der Melder hörte sie nicht.
Er gab zuerst dem Melder die Zigaretten und die Pervitin-tabletten, als sie im Dorf angelangt waren. Erst danach meldete er sich bei dem Leutnant. Das Gesicht Alfs war im Grunde ein Kindergesicht. Nur fehlte ihm die Naivität eines Kindergesichts. Alf konnte nicht verbergen, daß er ein berechnender Mensch war, es stand auf seinem Gesicht geschrieben, in seinen Augen. Es war eine Art Berechnung, wie man sie öfter antrifft: ein Mensch, der sich selbst grenzenlos offen eingesteht, daß seine Anlagen und seine erworbenen Fähigkeiten nicht ausreichen, das zu erfüllen, wofür man ihn bestimmt hat. Ein Mensch, der aus diesem Grunde die Klaviatur der sanften Verbindlichkeit so lange geübt hat, bis er sie mit raffinierter Sicherheit beherrschte und mit ihrer Hilfe die Wechselfälle, die sich aus dem Mißverhältnis zwischen seinen Fähigkeiten und seinen Aufgaben ergaben, zu meistern verstand, je nach den Umständen ungestüm oder zögernd, manchmal scharf oder mit scheinbarer Nachsicht, die nichts weiter war als in Berechnung umgemünzte Unfähigkeit. Er verbreitete um sich eine Atmosphäre behaglicher Gutherzigkeit. Er verbreitete sie sehr bewußt, und gerade deshalb merkte selten jemand, daß es nur Berechnung war.
Alf war einer von den Offizieren, die auf diese Art mit ihren Soldaten umgingen. Sie genießen bei der ihnen unterstellten Truppe den Ruf eines gemütlichen, großherzigen Vorgesetzten, der klug genug ist, über kleine Widersetzlichkeiten und Abweichungen von der Dienstregel hinwegzusehen, und sich nicht in Dinge einmischt, die von den Soldaten gern unter sich ausgemacht werden. Er verstand es, seine Unteroffiziere und Feldwebel so einzusetzen, daß niemals jemand auf die Idee kam, er hätte nicht alle Fäden in der Hand.
Aber in Wirklichkeit hatte er nichts weiter in der Hand als ein paar gehorsame Unterführer, die sich von ihm abhängig fühlten und danach trachteten, ihm angenehm aufzufallen, weil sich daraus Vorteile für sie selbst ergaben. Dieses Verhältnis übertrug sich in gewisser Weise auf die einfachen Soldaten, die ebenfalls bestrebt waren, nicht den Unwillen ihrer Unteroffiziere zu erregen, weil daraus Unbequemlichkeiten erwuchsen.
Auf diese Weise regierte sich die Kompanie eigentlich von selbst und doch nicht von selbst, sondern das Verhältnis der einzelnen Dienstgrade zueinander war bestimmt durch die außergewöhnliche Art ihres Einsatzes und die betont lockere Auffassung vom Leben zwischen den dicht oder weniger dicht aufeinander folgenden Fronteinsätzen.
Es war eine eigenartige Einheit, diese Frontaufklärungs-kompanie. Beim Regimentsstab hatte man sie zwar nicht vergessen, aber man beachtete sie kaum. Sie hatte ihre Aufgaben, und damit war die Sache auf der richtigen Bahn. Die Division beurteilte den Wert und die Kampfmoral der Kompanie nach den Erfolgen, die bei den Einsätzen errungen wurden. Dort sah man sich die Leute an, die zum Einsatz kommandiert wurden. Man überprüfte sie auf ihre Gefechtstauglichkeit und auf ihre Zähigkeit und Ausdauer. Man stellte ihnen im Rahmen der Vorbereitung bestimmter Einsätze kleine Aufgaben und maß so ihren Wert. Das war genau besehen die einzige Verbindung, die die Einheit mit der übrigen Welt der Militärmaschine besaß. Es gab niemanden, der dieser Kompanie etwas zu befehlen hatte, außer dem Divisionsstab und dem Kompaniechef.