Draußen an den dunklen Seidenglocken der Schirme baumelten die acht Männer. Die Erde kam näher. Es war still unten. Eine ebene Fläche mit Gebüsch und herbstkahlem Laubwald. Die Männer sanken lautlos der Erde entgegen, den Aufprall erwartend. Jeder der acht wußte, daß bis zur kommenden Nacht, wenn die Maschine sie zurückholte, einige von ihnen tot sein würden.
Die Stunde der toten Augen
Thomas Bindig lag zusammengekrümmt zwischen zwei dichten Akaziensträuchern. Sie standen an einer Böschung, und die Böschung lag einen Steinwurf von den Bahnschienen entfernt, dort, wo die Schienen auf die Brücke liefen. Er atmete leise, mit geöffnetem Mund, und seine Zahnreihen hoben sich schimmernd weiß von dem rußdunklen Gesicht ab. Er lag still und wartete. Die Erde war gefroren. Über den abgefallenen Blättern der Sträucher lag eine hauchdünne Schicht Reif. Es war windstill, und die Sterne waren sehr hell. Bindig schnallte mit langsamen, behutsamen Bewegungen die Riemen des Stahlhelmes auf. Er hob den Helm vom Kopf, legte ihn vorsichtig neben sich auf die Erde und rückte ein paarmal daran herum, bis der Helm so lag, daß er nicht durch eine unvorsichtige Bewegung ein Geräusch verursachen konnte.
Dann schob er ebenso langsam den Ärmel der Tarnjacke zurück und sah auf die Uhr. Das Zifferblatt leuchtete mattgrün. Der Sekundenzeiger glitt von Zahl zu Zahl. Er muß noch zehnmal den Weg am das Zifferblatt machen, dachte Bindig, dann ist es soweit. Dann muß ich vorn an der Brücke sein, dort, wo der letzte Busch steht. Und nachdem der Zeiger zehnmal seinen Weg genommen hat, werde ich dort sein, und dann wird der eine Posten von der Mitte der Brücke bis zu dem Strauch gehen. Er wird nur zwei oder drei Meter von mit entfernt umkehren, um zur Mitte der Brücke zurückzulaufen, wo er sich mit dem zweiten Posten trifft, der den gleichen Weg nach der anderen Seite geht. Und dort, an einem ebensolchen Busch, hockt Zado und wartet auf ihn. Es ist nicht schlimm heute nacht. Es ist beinahe leichter, als es in anderen Nächten war. Er hob das Messer auf, das er auf den Boden vor sich hingelegt hatte. Es war das übliche Kappmesser der Fallschirmjäger, mit dem breiten Holzgriff und der dünnen, leicht eingefetteten Klinge. Bindig hatte sie an beiden Seiten angeschliffen, haarscharf und ohne die winzigste Scharte. Es war die Waffe für diese Nacht. Die Pistole steckte in der Innentasche der Tarnjacke.
Noch zehnmal über das Zifferblatt, dachte er. Und an der anderen Seite der Brücke liegt Zado. Der Artist. Der Mann mit der Raubvogelnase und der Narbe über der Stirn, von einer Schlägerei in Hamburg. Er stellte sich vor, wie der andere dort drüben lag und ebenso lauerte wie er. Zado, dachte er, der Artist, der gewesene. Er hieß Zadorowski, aber keiner nannte ihn so. Sie nannten ihn Zado, und er war von Anfang an bei der Kompanie. Vier Jahre länger als Bindig. Er war in Kreta dabeigewesen und in Sizilien. Er war ein alter Fuchs, und er hatte im Variete als Messerwerfer gearbeitet und als Bodenakrobat Bindig dachte an ihn, während er sich langsam darauf vorbereitete, die letzten Meter bis zu dem äußersten Busch zu kriechen. Er dachte an den Artisten Zado, der sein Abitur in der Schublade hatte liegenlassen wegen der Liebhaberei mit den Messern und dem unwiderstehlichen Reiz, den die Bühnenbretter auf ihn ausgeübt hatten. Er stellte sich vor, wie Zado jetzt ebenso wie er, das Messer in der Hand, in die Nähe des Postens kroch, und er wußte, daß Zado den Russen geschickt und umsichtig töten würde, lautlos und sicher.
Die Brücke spannte sich über einen Flußlauf, der in einer tiefen Bodensenke lag. Es war nur ein schmaler Fluß, aber der Einschnitt in das Gelände war sehr tief, und dadurch ähnelte die Brücke beinahe einem Viadukt. Die Schienenstränge glänzten matt im Sternenlicht. Bindig sah zu, wie die Posten von den Enden der Brücke zur Mitte gingen, wo sie sich trafen, ein paar Worte wechselten und dann umkehrten, um wieder bis zum Ende der Brücke zu patrouillieren. Sie gingen, in Mäntel gehüllt, mit dem Gewehr auf dem Rücken. Es waren kleine, schwarze Gestalten mit Pelzmützen. Von weitem sah es aus, als wandelten sie auf einem unsichtbaren Pfad, der quer über den Himmel an den Sternen vorbeilief.
Der Soldat auf der anderen Seite der Brücke kroch bereits auf den Posten zu. Er bewegte sich mit der Routine seiner jahrelangen Soldatenzeit auf einen Fleck unter einem Baum zu, der am Kopf der Brücke stand. Er ließ den Posten zur Mitte der Brücke gehen und wieder zurückkehren. Immer, wenn der Posten ihm den Rücken drehte, kroch er weiter vorwärts. Bis er den Baum erreicht hatte, hinter dessen Stamm er sich hinhockte. Er hatte beobachtet, daß der Posten jedesmal um den Baum herumging, wenn er seine Runde von neuem aufnahm. Beim nächsten Mal, dachte Zado. Wieviel Menschen werde ich eigentlich noch töten müssen, bevor ich wieder meine Messer werfen kann? Er hörte den Posten mit dem anderen sprechen. Er ist noch ein junger Bursche, dachte er. Er wird wieder dieses verfluchte, erschrockene Kindergesicht haben, wenn er stirbt. Ich kann bald keine Toten mehr sehen und keine Sterbenden. Ich sehe sie in jeder Nacht. Wenn ich bei einer von diesen dickbeinigen Dorfhuren liege, sehe ich die Leichen, und dann kichert das Mädchen und knabbert von meiner Schokolade, weil sie weiß, daß ich eine Stunde nichts sagen und nichts tun werde. Es ist der Ekel. Aber es ist nicht der Ekel allein. Es ist viel schlimmer. Man darf nicht so oft daran denken. Man hat keine Wahl mehr. Aus einem fahrenden Zug kann man nicht springen. Man bricht sich das Genick dabei. Man muß bis zur Endstation mitfahren. Es ist ein verdammt abschüssiger Weg bis zu dieser Endstation. Da kommt der Posten. So sieht ein Mensch aus, der in der nächsten Minute sterben wird. Und ich muß ihn schon allein deshalb töten, weil an der anderen Seite der Brücke Bindig hockt, denn wenn ich ihn nicht töte, dann wird er Bindig töten, und Bindig werde ich nicht im Stich lassen, weil er der einzige ist, der weiß, daß mich die Gesichter der Leichen quälen, und weil er schweigt und ich weiß, daß es ihm nicht anders geht. Er verglich noch einmal die Zeigerstellung der Uhr mit der Zeit, die er Bindig eingeprägt hatte. Es ist richtig, dachte er. Er faßte das Messer und brachte den Körper in eine Stellung, die einer gespannten Sprungfeder glich. Er war ganz ruhig dabei und bewegte die Augenlider nicht mehr, bis er den Schritt des Postens vernahm. Dann hörte er ihn leise vor sich hin summend auf den Baum zukommen.
Bindig hockte hinter dem Busch und betrachtete den Boden vor seinem Versteck. Er war gefroren, aber es war grasbewachsener Boden, auf dem keine dürren Zweige lagen, kein Laub, nichts. Als die Posten sich in der Mitte der Brücke getroffen hatten, sah Bindig auf die Uhr. An den zehn Umdrehungen des Sekundenzeigers fehlte noch eine. Die Uhr war zuverlässig. Es war eine große Spezialuhr mit Stoppeinrichtung. Bindig verdeckte die blanke Schneide des Messers mit der flachen Hand. Der Posten kam langsam näher. Es war ein untersetzter Mann, der seine Pelzmütze keck auf die linke Seite gezogen hatte. Er trug weiter nichts als das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett. Daß sie ihre Posten immer mit dem Gewehr stehen lassen, dachte Bindig. Immer haben sie dieses lange Gewehr mit dem Vierkantbajonett. Die Maschinenpistole ist besser. Eine kurze Waffe ist überhaupt besser. Was will er schon mit dem Gewehr? Damit ist er viel zu langsam.
Er sah ihm direkt ins Gesicht, in ein breites, grobknochiges Gesicht mit einer lustigen Stupsnase. Zado und ich, dachte Bindig, während der Posten sich ihm näherte, sie haben uns darauf spezialisiert. Wie den Oberkellner auf das Sprengen. Wir sind eine Truppe von Spezialisten. Im Töten und im Zerstören. Ob wir uns einmal wieder daran gewöhnen werden, daß es das nicht mehr gibt? Einmal, wenn alles vorbei ist?