Werner erwiderte nichts. Das Messer zuckte zum zweitenmal in die Bretterwand. Hinter der Laube flog ein Vogel auf.
Das Mädchen hörte das Geräusch, aber es nahm den Bück nicht von dem Bild mit dem Messer.
»Schulter«, sagte Werner kurz, als er das Messer herauszog. Die anderen prüften das Ergebnis mißtrauisch. Das Messer saß dort, wo sich in den Schultern der Anzüge die Wattepolster befinden. »Die Drops hast du gewonnen…«, sagte einer kleinlaut. Werner beachtete ihn nicht. Er warf das Messer zum drittenmal, und bevor er es warf, wog er es liebevoll in der Hand. Es war ihm mehr wert als seine beiden Indianerbücher und das Fernglas, das der Vater ihm gegeben hatte, als er zehn Jahre alt geworden war. »Aufgepaßt«, rief er lachend, »jetzt stirbt er!«
Das Mädchen Franziska öffnete den Mund ein wenig. Sie hatte kleine spitze Zähne. Sie fuhr mit der Zunge über die Lippen und sah dabei das Messer fliegen.
»So!« sagte Werner und steckte die Hände tief in die Taschen. Er ließ zuerst die anderen das Bild betrachten, dann ging er selbst nahe genug heran. Der Junge, der das Bild auch getroffen hatte, sagte anerkennend: »Gewonnen. Zwei Treffer.« Er hielt ihm die Drops hin. Werner nahm sie und rümpfte die Nase dabei. Er hielt Franziska die Hand hin und sagte: »Da, nimm das Zeug. Ich esse das nicht.«
Das Mädchen nahm gehorsam die Süßigkeiten und erhob sich. Es ging zu der Bretterwand und blieb schweigend davor stehen, die Hand mit den Drops vom Körper abhaltend.
»Im Hals«, sagte einer der Jungen. »Ob der davon tot ist?«
Werner zog das Messer aus dem Holz und wischte es ab. Während er es in die Hosentasche steckte, sagte er nachlässig: »Und ob der tot ist. Da, wo das Messer traf, ist die Halsschlagader. Der stirbt ganz schnell. Ihr könnt ihn gleich noch begraben…«
Die Jungen lachten und redeten durcheinander. Einer nahm das Bild ab und wollte es wegwerfen. Aber Franziska nahm es ihm aus der Hand. Still und ohne eine Gebärde steckte sie es in die Tasche ihrer Spielschürze.
»Im Kopf wäre es besser gewesen«, sagte einer der Jungen, »so im Auge oder so…«
Werner blickte wieder dorthin, wo die Stadt begann. In dem Haus mit der Persil-Reklame wohnte er. Ein Stockwerk über Franziska. »Du Dummer…«, sagte er nachsichtig, »als ob ein Messer durch Knochen geht! Der Kopf ist aus Knochen, da kommst du mit dem Messer nicht durch. Halsschlagader ist das einzig richtige…« Er sah Franziska an und fragte sie: »Hast du schon Hunger?« Sie schüttelte den Kopf, aber es war nicht sehr überzeugend. »Gehen wir essen«, schlug Werner vor. Er überlegte einen Augenblick, dann fragte er die anderen: »Kommt ihr am Nachmittag mit zum Fluß?«
Sie hatten nichts Besseres vor. Es waren Ferien.
»Gut«, sagte Werner und lachte, »in einer Stunde. Holt noch die anderen zusammen. Mal sehen, wenn die von der Mauerstraße am Fluß sind, vermöbeln wir sie wieder anständig…«
Sie zerstreuten sich, als sie heimgingen. Werner streckte die Hand aus und sagte zu Franziska: »Komm, Rotschwänzchen…« Das Mädchen schlug ihm beleidigt auf die ausgestreckte Hand. Aber sie ging neben ihm her. Sie war kleiner als er, und ihr rotes Haar flammte in der Sonne.
Als er sechzehn Jahre alt war, schenkte sein Vater ihm ein Fahrrad. Er machte das sehr feierlich. Der alte Zadorowski war Steuerinspektor. Die Frau war ihm vor zwei Monaten gestorben, und nun war er mit dem Sohn allein. Es war zu weit vom Steueramt bis in die Wohnung am Stadtrand, und Zadorowski kam zum Mittagessen nicht nach Hause. Er gab dem Jungen Geld, damit er sich jeden Mittag etwas zu essen kaufen konnte. Werner kam um die Mittagszeit aus dem Gymnasium nach Hause. Dann schnitt er sich von dem Brot in der Büchse ein paar Scheiben ab, kratzte Margarine darüber und aß sie. Dazu trank er den kalten, schwarzen Kaffee vom Morgen. Das Geld behielt er. Ein halbes Jahr später hatte er genug beisammen, um ein Fahrrad zu kaufen. Er ging in das nächste Geschäft und kaufte das schönste Damenfahrrad. Er fuhr es ein paar Häuser weiter, dorthin, wo der Junge wohnte, der damals mit dem Messer auch das Bild getroffen hatte. Der Junge lernte Schlosser. Er verdiente schon Geld, und er ging ziemlich großzügig damit um.
»Paß auf, Max«, sagte Werner, »ich stelle dieses Fahrrad bei dir ein. Es gehört Franziska. Wenn dich jemand fragt, gehört es dir oder deiner Schwester, und ihr borgt es Franziska.«
»Ist es geklaut?« erkundigte sich der Junge.
»Nein«, sagte Werner, »gekauft.«
»In Ordnung«, erklärte Man, »hast du eine Zigarette?«
Werner hatte eine. Sie rauchten, und Max sagte anerkennend: »Die Franziska wird ein hübsches Mädchen. Eine Brust hat sie…«
Es wurde Mai. Sie lagen irgendwo unter rosa blühenden Bäumen in einem Wäldchen, weit von der Stadt entfernt. Die Berge erhoben sich über ihnen. Sie waren allein. Die Fahrräder lagen abseits. Es war Sonntag, sie waren hinausgefahren, um miteinander allein zu sein.
»Du wirst fortgehen, und ich werde mich einsam fühlen ohne dich…«, sagte Franziska. Sie sah aus wie eine Zwanzigjährige. Sie hatte noch immer das lange rote Haar. Es fiel über ihre Schultern. Er spielte mit diesem roten Haar, und seine Hand glitt unter ihre geöffnete Bluse. Die Haut ihrer Brüste war weiß wie frische Milch.
»Ich werde immer mal zu Hause sein«, sagte er. Es klang gepreßt. Er streichelte ihre Brüste.
»Dein Vater hat gesagt, er sähe es nicht gern. Er wolle versuchen, es dir noch auszureden. Er hat es zu meiner Mutter gesagt.«
Er öffnete ihre Bluse ganz und küßte ihre Haut.
»Ich werde dir schreiben«, sagte er leise, »und ich werde immer mal zu Hause sein. Ich werde aus Berlin schreiben und aus Amsterdam und Paris. Aus der ganzen Welt…«
Sie streichelte sein Gesicht. Ihre Finger spielten mit seinem Haar. Sie sah seine Augen über ihrem Gesicht. Ein paar halbgeöffnete, glänzende Augen.
»Du…«, sagte sie, »du darfst keine andere haben, wenn du fort bist, hörst du? Keine andere außer mir…«
Er antwortete nicht. Er umfing ihren Körper. Dieser Körper war biegsam und heiß. Die Haut war glatt und seidenweich.
»Warte nur…«, flüsterte er. »Einmal werde ich zurückkommen, und dann werde ich mein Auto vor dem Haus parken. Dann fahren wir zusammen aus. Wenn es soweit ist, werden wir heiraten, und du wirst mich immer begleiten…«
Ihr Körper strebte dem seinen entgegen. Sie biß ihn in die Lippen, aber er spürte es nicht. Er sah ihre Augen. Bräunlich mit einem roten Schimmer.
Sie hat die seltsamsten Augen der Welt, dachte er. Sie ist schön. Wenn sie noch einige Jahre älter ist, werden die Leute ihr nachsehen. Sie wird sich gut anziehen können. Elegant.
Eine Blüte taumelte durch die Luft und blieb in ihrem Haar hängen. Blütenprinzessin, dachte er. Blütenprinzessin mit dem Flammenhaar und den brennenden Augen. Blütenprinzessin, Flammenhaar, Franziska, die Blütenprinzessin…
»Du…«, hauchte sie, »das darf niemand wissen… niemand! Nur wir beide. Niemand außer uns. Es ist unser Geheimnis…« Ihre Körper lagen verschlungen auf dem Gras, und die Blüten segelten aus den Baumkronen.
»Du bist meine Blütenprinzessin…«, flüsterte er ermattet. Sie hatte feuchte Augen und sehr rote Lippen. Er küßte sie wieder. Abends, als sie heimfuhren, sagte er lachend zu ihr: »Warte nur, einmal wirst du keine Kleider mehr zu nähen brauchen und keine Mäntel. Du wirst mit mir im Auto reisen. Nach Paris, nach Rom, überallhin, wo ich bin…«