Der Posten hustete leise. Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben. Bindig sah, daß er das Koppel über dem Mantel trug. Das ist gut, dachte er. Wenn sie es unter dem Mantel tragen, ist man unsicher mit dem Messer. Sie haben dicke Lederkoppel. Der Posten blieb ein paar Schritte vor dem Busch stehen und drehte sich um. Er schlug die Stiefel aneinander und ging seinen Weg zurück. Bindig erhob sich, ohne ein Geräusch zu verursachen. Er machte schnell einen Schritt an dem Busch vorbei und dann einen nächsten und noch einen. Er lief nicht; er ging schnell, mit großen Schritten, lautlos auf den dicken Gummisohlen, bis er im Rücken des Postens war. Er sprang ihn nicht an. Er legte ihm den linken Arm um den Hals und stieß mit dem rechten zu. Es war die schnellste, sicherste und leiseste Art zu töten, die er erlernt hatte. Das Messer zerriß dem Posten die Niere, und der Mann sank mit einem erstickten Schnaufer zu Boden. Bindig fing ihn geschickt auf, und dann nahm er ihm ebenso geschickt das Gewehr von der Schulter. Er zog dem Toten den dicken, braungrauen Mantel aus und warf ihn sich über. Er war ihm ein wenig zu groß, aber darauf kam es jetzt nicht an. Mit ein paar schnellen, federnden Schritten lief er an den Platz zurück, wo sein Stahlhelm lag. Er holte ihn und hängte ihn an das fremde Koppel über den Mantel. Dann setzte er die Pelzmütze des Toten auf und warf sich dessen Gewehr über die Schulter.
Auf der Brücke hatte man eine gute Aussicht ins Land. Aber es war nirgendwo ein Lichtschein zu entdecken, außer dem schmalen Streifen, der aus dem Fenster des Bahnwärterhäuschens fiel, das ein paar hundert Meter hinter der Brücke am Bahndamm lag. Dort schliefen die übrigen Soldaten des Postenkommandos. Bindig ging nicht schneller und nicht langsamer auf die Mitte der Brücke zu, als der Posten gegangen war. Als er die ersten Schritte gemacht hatte, sah er Zado von der anderen Seite herankommen. Er erkannte ihn sofort am Gang. Zado hatte den Gang eines Eintänzers. Er war nicht zu verwechseln. Ihm paßte der Mantel des anderen Postens. Nur die Pelzmütze schien ihm zu groß zu sein. Sie erkannten sich beide, denn sie trugen die Gewehre jetzt beide mit dem Lauf nach unten; als sie sich vergewissert hatten, daß die Läufe der Gewehre nach unten zeigten, gingen sie einander schnell entgegen. Sie trafen sich in der Mitte der Brücke, wo sich die beiden Posten immer getroffen hatten.
»Junge«, sagte Zado langsam, »mit vierzig Jahren werden sie uns in ein Irrenhaus stecken, wenn das noch eine Weile so weitergeht. Das kann kein Mensch aushalten.«
Bindig antwortete nichts. Er blickte dorthin, wo der Unteroffizier mit den anderen liegen mußte, und dabei hob er eine Hand. Unten in den Büschen, jenseits der Bahnlinie, blinkte für den Bruchteil einer Sekunde der Lichtpunkt einer Taschenlampe auf. »In Ordnung«, sagte Zado, »komm…«
Sie verließen, auf den Sehwellen der Bahngleise gehend, die Brücke und bewegten sich auf das Versteck der anderen zu.
»Manchmal«, sagte Zado leise, »manchmal habe ich Angst, daß ich in einem solchen Augenblick einfach aufstehe und zu so einem Posten sage: ,Hier bin ich!‘« Er hielt den Kopf gesenkt, und die Pelzmütze rutschte ihm in die Stirn. Er schob sie ärgerlich nach hinten. Bindig antwortete nichts. »Aber es hat eben keinen Zweck«, sagte Zado, »ich weiß es. Es hat keinen Zweck, man bringt es nicht fertig.« Er ging mit gesenktem Kopf weiter neben Bindig her. Der biß sich auf die Lippen und sagte nichts. Es hatte keinen Sinn, etwas zu sagen. Das alles war nicht zu ändern. Es war so, wie Zado es sagte. Man durfte nicht daran denken und mußte auf das Ende warten. Man war Soldat, und man hatte zu tun, was einem befohlen wurde. Diese Einsätze hinter der Front waren nicht angenehm. Aber es gab nicht viel Auswahl, und die Leute, die in den Schützenlöchern hockten und auf die T 34 warteten, waren nicht besser dran. In dem einen Jahr, das Bindig bei der Kompanie verbrachte, hatte er gelernt, was es hieß, Soldat des Führers zu sein. Es hieß, daß man innerhalb der Gattung Mensch einen besonderen, untergeordneten Platz einnahm. Daß man über seine Handlungen nicht nachzudenken hatte und auch nicht über die Zukunft und die Vergangenheit. Wenn man das fertigbrachte, fehlte einem nichts. Aber es war schwer, das fertigzubringen. Es gab Augenblicke, in denen man bereit war, das zu tun, von dem Zado eben gesprochen hatte. Doch da stieg dann die Angst auf. Die Ungewißheit. Und wenn man Ruhe hatte und sich einem die Gedanken aufdrängten, dann war man mit einemmal ein jämmerliches Häufchen, ein Gemisch von Mut und Angst, von Zuversicht und Mißtrauen, von verlorenen Illusionen und jämmerlicher Ratlosigkeit. Man war ein haltloses Bündel Knochen, Muskeln und Sehnen vor dem kalten Kaleidoskop toter Augen, die den getöteten fremden Soldaten gehörten.
Sie gingen an dem Posten vorbei, den Bindig getötet hatte. Zado legte den Kopf eigentümlich schief, um ihn anzusehen. Bindig ging plötzlich schneller. Es drängte ihn, an dem Toten vorbeizukommen. Er brachte es nicht fertig, ihn anzublicken. Die Kehle war auf einmal zu eng. Sie ließ den Atem nicht mehr passieren, es war, als schlösse sie sich, als lege sich ein Druck auf die zuckenden Muskeln des Herzens.
Die Leere, in die er tauchte, war ganz plötzlich da. Im Kopf erhob sich ein feines Singen. Der schwarzseidene Vorhang fiel vor den Augen, und der Sternenhimmel begann langsam zu kreisen. Die Knie knickten ihm ein, und er stolperte. Aber Zado fing ihn auf, bevor der Lauf des Gewehres die Erde berührte. Er packte ihn und hielt ihn aufrecht; er wußte, daß er ihn jetzt hier nicht zusammenbrechen lassen durfte. Es war zu früh, zusammenzubrechen. Er nahm ihn und schüttelte ihn. Er riß ihn am Ohr und schlug ihm ins Gesicht, bis der Körper sich wieder straffte. Während er ihn losließ, griff er unter den Mantel und holte aus der linken Wadentasche eine kleine Metallflasche mit Kognak. Er schraubte sie auf und hielt sie Bindig vor die Nase.
»Da… sauf!« sagte er. »Wir haben noch viel vor heute nacht!« Bindig trank das scharfe Getränk, und er spürte, wie es ihm brennend durch die verschlossene, zusammengepreßte Kehle rann. Die Tränen traten ihm in die Augen, und er begann durch den trüben Schleier der Tränen wieder den Nachthimmel zu sehen, die kahlen Bäume und die Sträucher und den mattsilbernen Schienenstrang. Er wischte sich mit dem Ärmel des Mantels über das Gesicht. Der Mantel roch nach Holzrauch und Schmieröl, und die Nachtluft, die Bindig tief einatmete, war plötzlich wieder klar und kalt. Er gab Zado die Flasche zurück und sagte leise: »Danke.«
»Geht’s wieder?« erkundigte sich der andere.
Bindig nickte. Er faßte den Riemen des Gewehres fester und merkte, daß der Boden unter den Füßen wieder fest war. »Es geht«, sagte er heiser. Er stieß den Atem aus in einer grauen, zerflatternden Wolke, die sich in der Kälte der Luft auflöste. »Es war der Tote«, sagte er. »Als ich es tat, war ich ganz ruhig. Aber jetzt… es ist immer so. Du weißt, daß ich keine Memme bin. Aber nachher packt es mich immer so…« Zado ging mit seinen tänzelnden Schritten neben ihm her. Er nahm auch einen Schluck aus der Flasche, bevor er sie einsteckte. Er dachte: Der Schnaps ist das einzige, was hilft. Der ganze Krieg ist ein Gemisch von Todesangst und Ekel und Schnaps. »Reiß dich zusammen«, sagte er. »Es sind nur die Nerven. Es sind diese verfluchten Nerven. Aber es gibt keinen Menschen ohne Nerven. Ohne Beine kannst du leben. Ohne Nerven nicht. Und nicht ohne Schnaps.«
Sie kletterten den Bahndamm hinab. Vorsichtig wichen sie einem Haufen leerer Konservenbüchsen aus, der zwischen dem Gebüsch und dem Bahndamm lag. Alte, verrostete Büchsen.
»Meinst du, daß du es machen kannst?« fragte Zado. Er sah Bindig von der Seite an und dachte: Dieser verdammte Ruß! Man kann nicht einmal sehen, ob sein Gesicht bleich ist. Man weiß nicht, ob er nicht vielleicht umfällt, wenn wir die Tür von diesem Bahnwärterhäuschen aufstoßen. Es ist eine unsichere Sache. Man muß genau wissen, ob man sich auf ihn verlassen kann. Es war, als hätte Bindig seine Gedanken erraten. Er schüttelte leicht den Kopf, und er wirkte wieder sehr sicher, als er sagte; »Hab keine Angst. Es ist vorbei. Es geht immer schnell vorbei. Richtig schlimm wird es erst, wenn wir zu Hause sind.«