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Der Himmel im Osten wurde hell, Bindig konnte sich nun genau orientieren, als er weiterging. Er schlich über die Straße und schlug den Weg nach Haselgarten ein.

An der nächsten Straße, die er zu überqueren hatte, mußte er eine Stunde lang seitlich im Wald kauern, bis er es wagen konnte, die Fahrbahn zu überschreiten. Es war heller Tag, und Fahrzeuge flitzten über den glattgefahrenen Schnee. Sie nahmen keine Rücksicht auf deutsche Flieger, denn es gab keine, die sie hätten beschießen können. Zuerst hatte Bindig geglaubt, das ganze Hinterland würde in Aufregung versetzt sein durch den Überfall in der Nähe des Holzplatzes. Er hatte angenommen, daß alle Straßen abgesperrt seien und Infanterie systematisch das Land abkämmen würde. Er spürte nichts davon. Es war, als habe sich weiter nichts ereignet. Die Jeeps flitzten geschäftig hin und her, Lastwagen dröhnten in unablässigen Kolonnen. Dazwischen Panzer und Artillerie, immer wieder Artillerie, Pferdefahrzeuge mit vermummten Gestalten auf den Kutschböcken, oft in langen Kolonnen. An manche der Pferdewagen waren Schlitten gebunden. Kleine, einem flachen Boot ähnelnde vollbepackte Transportmittel. Bindig lag im verschneiten Gehölz, und es bereitete ihm Mühe, alles in sich aufzunehmen, was auf der Straße vor sich ging. Der Schmerz bohrte in seinem Kopf; manchmal mußte er minutenlang die Augen schließen. Als er eine Stunde an der Fahrbahn gelegen hatte, begriff er, wie wenig das Unternehmen Friedhof einen Aufmarschplan dieser Armee erschüttern konnte. Er hatte noch nie so direkt und so nahe an einer Nachschubstraße gelegen. Es war das erstemal, daß er die fremden Soldaten aus so geringer Entfernung betrachtete, ohne einen Auftrag zu haben, der ihm einen bestimmten Weg wies. Endlich, als der Strom der Fahrzeuge für kurze Zeit abriß, raffte er sich auf und wagte den Sprung über die Straße. Der Schweiß brach ihm aus den Poren, als er auf der anderen Seite im Geäst der Bäume verschwand. Er glaubte noch lange, entdeckt zu sein, und manchmal blieb er stehen, die Pistole in der Hand, um seine vermeintlichen Verfolger zu erwarten. Sie kamen nicht.

Er bekam überhaupt den ganzen Tag keinen Soldaten mehr zu Gesicht, denn jedesmal, wenn er Anzeichen für die Ansammlung von Truppen entdeckte, schlug er einen großen Bogen. Am Nachmittag war sein Hunger so stark, daß er die letzte Schokolade aß. Nun hatte er nichts mehr in den Taschen als das Pervitin und ein paar Zigaretten. Haselgarten war nur eine Kleinigkeit näher gekommen. Er hatte zu viele Bogen gemacht, und er hatte zu oft, erschöpft vom Blutverlust, ausruhen müssen. Aber er schleppte sich weiter, bis die Dämmerung kam. Das war um die Zeit, als er eins der Dörfer umgehen mußte, die auf seinem Weg lagen. Er schlich sich in weitem Bogen seitwärts daran vorbei, aber das Dorf dehnte sich weit aus, und es lag voller Truppen. Aus den Kaminen stieg Rauch in den Himmel. Bindig beobachtete das Treiben zwischen den Häusern eine Weile vom Rande einer Sandgrube aus. Die rauchenden Kamine und die Lichter in den Fenstern riefen in ihm die Erinnerung an Wärme und Geborgenheit wach. Er starrte auf das Dorf, und zum erstenmal überlegte er, was wohl geschehen würde, wenn er jetzt einfach dorthin ginge und sich gefangengäbe. Er dachte den Gedanken nicht zu Ende, er sah nur auf seine Stiefel und auf die braungelbe Uniform, die er trug. Er sagte sich, daß es nicht möglich war, einfach dort hinzugehen, ohne sich damit abzufinden, daß man getötet wurde. Und er wollte leben, er hatte noch nie zuvor sich so mit aller Kraft an das Leben geklammert. Er wollte es retten.

Sie töten dich, dachte er. Du hast ihre Uniform an, das ist verboten. Sie haben das Recht, dich einfach an die Wand zu stellen, und niemand wird dich bedauern, wenn sie es tun. Du hast den Einsatz gekannt, und du bist mitgegangen. So sieht das Ende aus. Du mußt weitermarschieren.

Später machte er im Wald einen Weg ausfindig, der schnurgerade nach Westen führte. Der Weg war verschneit, und Bindig ging ihn, bis er kurz nach Mitternacht wieder aus dem Wald herauskam.

Da lag vor ihm eine ziemlich weite, freie Fläche, ein See, an dessen rechtem Ufer eine Straße entlanglief, auf der die Scheinwerfer von Fahrzeugen herumtasteten. Links schloß sich ein Dorf an das Seeufer an. Eins von den kleinen, geduckten Dörfern mit ihren verschneiten Häusern. Bindig sah, daß in einigen der Fenster Licht brannte, und er wußte, daß er zwischen der Straße und dem Dorf den See überqueren mußte. Es war dunkel. Man würde ihn auf diese Entfernung weder von der Straße her noch vom Dorf aus sehen können. Er trat noch einmal in den Schatten der Bäume und brannte den Stummel einer Zigarette an, die er mittags zur Hälfte geraucht hatte. Dabei betrachtete er den See und schätzte die Entfernung ab. Er würde einen Kilometer oder mehr zu laufen haben, bis er am anderen Ufer war. Und dort begann Buschwerk, das zuletzt in einen nur undeutlich erkennbaren Wald überging. Es war eine weite Strecke.

Das Eis war nur mit einer dünnen Schneedecke überzogen. Der Wind hatte den Schnee fortgetrieben. Nur zuweilen türmte sich eine einzelne Wehe höher auf. Bindigs Stiefel waren mit Leder beschlagen. Das verlieh ihm einen sicheren Halt auf der glatten Eisfläche. Aber sein Gang war schwankend. Er war müde und hungrig. Der Schmerz im Kopf war noch immer da. Er hatte zwar nachgelassen, aber die Tabletten, die Bindig von Zeit zu Zeit nahm, konnten ihn nicht ganz beseitigen.

So kam es, daß er mehr glitt als ging und die Stelle im Eis nicht bemerkte, die unsicher war. Vor Tagen hatte hier jemand gefischt. Er hatte das Eis aufgehackt oder auch aufgesprengt, hatte ein paar Handgranaten ins Wasser fallen lassen und die nach der Explosion mit zerrissener Schwimmblase oben treibenden Fische aufgelesen. Einige von ihnen, die ihm zu klein gewesen waren, hatte er liegenlassen. Sie waren nach Stunden, als sich die geöffnete Stelle wieder mit einer neuen Eisschicht überzog, in diese Schicht eingefroren.

Das alles sah und begriff Bindig erst viel später.

Er trat auf die neue Eisschicht, und sie gab unter seinen Füßen nach. Er warf sich zurück, aber die Bewegung fiel zu schwach aus. Er brach ein in das klare, eiskalte Wasser, und während er versank, schlug er mit der verletzten Stelle am Kopf hart an die Kante des Eises. Er schrie auf, aber er war bereits mit dem Kopf im Wasser, und es war weiter nichts zu hören als ein undeutliches Gurgeln. Bindig hatte noch Kraft genug, um ein paar Schwimmbewegungen auszuführen, die ihn an die Oberfläche brachten. Er konnte sich über Wasser halten, aber wohin er griff, um sich auf das Eis zu ziehen, bröckelte es ab, und er tauchte bei seinen Versuchen immer wieder mit dem Kopf unter.

Er schluckte das eiskalte Wasser und spürte, wie es langsam seine Kräfte lähmte. Seine Finger erstarrten. Er konnte die Beine in den schweren Stiefeln kaum noch bewegen. Der Entschluß zu schreien kam ganz plötzlich. Bindig rief um Hilfe, ohne zu überlegen, was geschehen würde, wenn jemand ihn hörte. Doch es hörte ihn niemand, denn aus seiner Kehle kam nichts als ein Krächzen, das schon wenige Meter neben der Einbruchstelle nicht mehr vernehmbar war.

Er spürte, daß ihm dadurch keine Hilfe gebracht wurde, und er packte mit verzweifelten Anstrengungen nach den dünnen Eisrändern, die abbrachen und neben seinem Kopf im Wasser trieben. Er merkte nicht, daß er die Binde verloren hatte und daß die Wunde wieder blutete; denn es war dunkel, und er konnte das blutig gefärbte Wasser nicht sehen. Meterweise brach das Eis ab wie sprödes Glas.

Aber dann war Bindig am Rand der alten, dicken Eisfläche angelangt. Er spürte es, denn sie gab unter seinem Griff nicht nach. Sie war fest und hielt sein Gewicht aus, als er sich anklammerte, erschöpft von den Bewegungen, mit denen er sich über Wasser halten mußte.

Es gelang ihm, sich so weit aus dem Wasser herauszuarbeiten, daß er die Ellbogen auf das Eis stützen und sich ausruhen konnte. Dabei spürte er, wie sein Unterkörper langsam erstarrte und wie es immer schwerer wurde, die Glieder zu bewegen. Aber in dem erschöpften Körper lebte noch ein Teil der früheren Zähigkeit, und Bindig, der den Schreck überwunden hatte, begann zu rechnen. Er schob die Ellbogen zentimeterweise so weit auf das Eis, daß er mit dem Kopf weit über dem Rand der Scholle lag. Alles hing davon ab, ob das Eis dieses Gewicht trug. Aber das Eis war dick. Es war das alte Eis aus den Tagen des strengen Frostes.