Eigentlich war es keine Lichtung, sondern nur eine Stelle im Wald, an der die Bäume sehr weit standen. Es gab auf mehrere hundert Meter nur dünne Stämmchen und Büsche. Timm hatte weiter nichts gesehen als das kurze, dicke Rohr eines Sturmgeschützes.
Er blieb regungslos an der Außenseite des Waldpfades liegen. Er rührte sich kaum dabei, als er mechanisch die zusammengefaltete Karte zum Mund führte. Er biß und kaute darauf herum, während seine Augen weit geöffnet auf das Fahrzeug starrten, daß ihm die Breitseite zukehrte. Er erkannte es sofort als ein sowjetisches Geschütz. Es war gedrungener gebaut als die deutschen Geschütze. Das Rohr war kurz, konisch und dick. Es war waagerecht gekurbelt, in Ruhestellung. Timm erkannte jetzt auch die Raupenketten und das Heck des Fahrzeuges mit den Auspufftöpfen. Und er sah, daß es nicht allein hier stand. Es war nicht abgeschossen, vergessen, kein Wrack mit rostenden Stahlplanken. Es war eins von vielen Geschützen, die zwischen den Bäumen parkten. Timm konnte sie sehen. Sie standen nicht weit voneinander entfernt, manche gegen Fliegersicht mit Reisig abgedeckt. Es waren ein Dutzend oder mehr. Man konnte sie nicht alle sehen, und es war zu vermuten, daß ein Teil von ihnen noch weiter entfernt im Dunkel unter den Bäumen parkte. Sie standen ungeordnet da, und Timm übersah die Lage sofort. Es war eine Bereitstellung. Eine Batterie oder auch zwei oder drei, die hier in Abruf Stellung lagen. Neues Material aus dem Osten, für den kommenden Angriff zusammengezogen, aber noch weit von der Front entfernt. So weit wie der Angriff vom heutigen Tag.
Es rührte sich nichts bei den Fahrzeugen. Nirgends war ein Posten zu sehen, so sehr Timm seine Augen anstrengte. Er kaute erregt auf dem ekelhaft schmeckenden Papier des Kartenblattes, bis er fühlte, daß es nur noch aus einem Brei von Papierfasern bestand. Da ließ er es aus dem Mund gleiten und schob es vorsichtig unter das Laub. Er spürte, wie der Schweiß auf seinem Rücken eiskalt wurde. In die Lenden kroch ein ziehendes, sich bis in die Oberschenkel fortpflanzendes Gefühl. Timm hatte Angst vor dem Posten, den er nicht sah und der doch irgendwo stehen mußte, zwischen den Bäumen versteckt, ihn regungslos beobachtend. Er biß sich schmerzhaft in die Lippe, als er merkte, daß seine Hände zitterten. Du darfst nicht die Nerven verlieren, Junge, sagte er sich. Er redete es sich ein und bemühte sich, die Hände stillzuhalten und des Gefühls in den Lenden Herr zu werden. Du mußt ganz ruhig bleiben, Timm. Wenn er dich gesehen hat, dann wird er über kurz oder lang doch schießen, oder er wird dich anrufen. Wenn er dich gesehen hat! Aber warum soll er dich gesehen haben? Vielleicht schläft er unter seinem Baum. Vielleicht haben sie gerade abgelöst. Übrigens hätte er dich längst angerufen, wenn er dich gesehen hätte. Unsinn! Er hat dich nicht gesehen! Er wird dich auch nicht sehen. Denn wenn du ihn kommen hörst, wirst du still auf der Erde liegenbleiben wie ein Baumstumpf. Er bewegte sich nicht. Er starrte nur geradeaus, und er fühlte, wie ihm der Schweiß unter dem Helm hervorrann.
Er kann dich aber doch gesehen haben, überlegte er wieder. Er kann dich gesehen haben und dich jetzt ganz genau in seinem Visier haben. Er kann abwarten, mit dir spielen, weil er genau gesehen hat, wer du bist. Er kann grinsend hinter einem solchen Baum hocken und dich beobachten, du entgehst ihm nicht. Sie haben gute Augen. Und sie hören gut. Mag sein, daß sie nach Knoblauch stinken und nach Machorka, aber sehen und hören können sie. Mach dir nichts vor, Timm, er sitzt hinter seinem Baum und lauert. Und er wird dich töten. Es gibt keinen Zweifel, er wird dich töten, aber erst dann, wenn er sicher ist, daß du allein bist, oder überhaupt erst dann, wenn er es für richtig befindet. Er läßt dich zappeln wie die Maus in der Falle. Er will dich nervös machen, es gelingt ihm auch. Er läßt dich hier liegen, bis du irrsinnig bist vor Angst und aufspringst, und dann knallt er dich ab wie der Jäger ein auffliegendes Rebhuhn.
Es war, als bliebe das Blut in seinen Adern stehen, als wäre sein Körper mit einemmal nicht mehr warm und lebendig, sondern eiskalt, starr. Dann schüttelte ihn der Frost, und er strengte sich vergeblich an, die Hände ruhig zu halten. Er hatte längst den Finger aus dem Abzug der Maschinenpistole nehmen müssen. Er biß die Zähne zusammen, denn er meinte, daß das Geräusch bei ihrem Aufeinanderklappen bis an das Sturmgeschütz zu hören sein müsse. Um ihn herum war es still. Es regte sich nichts. Das war es, was Timm nervös machte. Wenn in diesem Augenblick auf der Lichtung vor ihm die Soldaten durcheinander gerannt wären, wenn die Scheinwerfer sich in das Walddunkel gefressen hätten und die aufs Geratewohl abgefeuerten Gewehrschüsse durch die Büsche neben ihm geprasselt wären, dann wäre Timm ruhig gewesen. Die Stille war es, die ihn ängstigte. Er lag am Rand des Waldpfades auf dem Bauch und biß sich die Lippe blutig. Erst als einige Minuten vergangen waren, spürte er plötzlich den Schmerz in der Lippe. Er sagte sich, diese Lippe wird Hannelore nicht gefallen. Und im gleichen Augenblick, als er sich das sagte, wußte er, daß er das Schlimmste überwunden hatte.
Er schöpfte tief Luft und lauschte in den Wald hinein. Mit Befriedigung stellte er fest, daß seine Hände wieder sicher wurden. Aber gleichzeitig begann ihn der Gedanke an die anderen Männer zu bewegen. Er wußte, daß es ihnen ebenso gehen würde wie ihm. Diese Bereitstellung der Sturmgeschütze hatten die Aufklärer nicht entdeckt. Sie war ein Hindernis, das man nicht voraussehen konnte. Die Aufklärer hatten diesen Wald für absolut sicher gehalten. Timm überlegte, wie sich die anderen Soldaten seiner Gruppe verhalten würden, wenn ihnen das gleiche zustieß wie ihm. Ob sie überhaupt die Geistesgegenwart besitzen würden, stillzubleiben, oder ob sie vielleicht die Bereitstellung erst zu spät entdeckten?
Er spürte mit einemmal seine Glieder wieder. Das war ein Zeichen dafür, daß er wieder fähig zum Handeln war. Timm ist wieder da, dachte er grimmig, Timm lebt noch! Er spürte die Wodkaflasche in der Hosentasche und wunderte sich, daß sie nicht zersprungen war. Sie haben dickes Glas, dachte er. Dann legte er behutsam wieder den Finger in den Abzug der Maschinenpistole. Er machte eine einfache Überlegung; Wenn der Posten dich im Visier hat, wird er dich so oder so abknallen. Hat er dich nicht im Visier, dann wird er dich aufspüren, wenn du hier noch lange herumliegst. Also: Deine Chance ist es, zu verschwinden. Es ist die letzte Chance, und es ist nicht gewiß, daß du Glück hast, aber du mußt die Probe machen.
Er hatte nicht die Absicht, zurückzukriechen, um die anderen zu warnen. Sie mußten ein Stück hinter ihm sein, aber sie waren auf anderen Wegen gegangen. Er dachte nur an sich, und er bewegte sich unendlich langsam auf dem Waldpfad rückwärts. Er kroch ein paar Zentimeter, einen Viertelmeter und einen halben, einen Meter und noch einen. Es geschah nichts. Der Wald blieb ruhig, und die Sterne flackerten ebenso unbeständig weiter wie zuvor. Timm kroch, sich dabei das salzige Blut von der aufgebissenen Lippe leckend. Er kroch weiter und weiter, und schließlich war er so weit gekrochen, daß er das Sturmgeschütz nicht mehr sehen konnte. Es war dunkel, und der Pfad vor ihm lag nur wenige Meter im dünnen Sternenlicht, das durch die Baumkronen fiel. Weiter hinten erhob sich die Dunkelheit wie eine stumpfe Mauer, und Timm dachte: Dort hast du vor ein paar Minuten noch gelegen, und keiner hat geschossen. Es gibt keinen, der dich gesehen hat. Er verhielt und lauschte. Dann erhob er sich auf die Füße und nahm die Maschinenpistole unter den Arm. Er lief wie auf Kommando, mit katzenhafter Behendigkeit, lautlos, mit großen, ungleichmäßigen Sprüngen. Er brachte einige hundert Meter zwischen sich und den Platz, an dem die Sturmgeschütze standen, und er blieb erst keuchend stehen, sich duckend, erstarrt wie eine Bildsäule, als aus dem Gebüsch seitlich des Pfades plötzlich eine Stimme halblaut seinen Namen rief.