Bindig merkte, daß ihm aus dem Haar Wasser über das Gesicht lief. Aber dieses Wasser erschien ihm seltsam warm, und als er mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte er, daß es Blut war. Fast im gleichen Augenblick nahm er den Schmerz wahr, der erneut in der Wunde bohrte und der ihm erst jetzt wieder bewußt wurde. Das trieb ihn zu einer letzten, verzweifelten Anstrengung. Er hob erst eine Schulter an und dann die andere. Er spürte, wie er dabei Zentimeter vorwärts rutschte. Er wiederholte es einmal und noch einmal. Die Kante des Eises preßte sich gegen seine Brust, dann war es, als ob diese Kante immer tiefer rutschte, die Brust hinab bis in die Magengegend, tiefer und weiter, bis das Übergewicht des Körpers über der Kante lag, bis Bindig, sich auf den Unterarmen langsam vorwärts bewegend, die Füße aus dem Wasser ziehen konnte.
Er blieb bewegungslos liegen und ließ den Kopf auf die Hände fallen. Nach einer Viertelstunde klebten die eisigen Kleidungsstücke an seiner Haut, und nach einer weiteren Viertelstunde waren sie steif gefroren. Das Blut, das auf seine Handflächen rann, war warm. Er hob müde den Kopf und sah sich um. Weit und breit war kein Mensch. Niemand hatte ihn gehört oder gesehen. Da vorn ging der See zu Ende, das waren noch ein paar hundert Meter.
Er arbeitete sich hoch, bis er auf den Knien lag. Er fühlte sich schwindlig und kraftlos. Jede Bewegung verstärkte den bohrenden Schmerz am Kopf. Wenn er sich bewegte, raschelten die gefrorenen Kleidungsstücke. Auf den Knien liegend, riß Bindig von dem einstmals weißen Schneehemd, das zerfetzt und schmutzig geworden war, einen Fetzen ab. Er mußte ihn in der Hand auftauen, denn er war gefroren. Er band den Fetzen, so gut es ihm gelang, um den Kopf, und dann bekam er es fertig, sich mit großer Kraftanstrengung auf die Füße zu stellen. Die Knie knickten ihm ein, als er sich weiterschleppte, aber er schleppte sich bis an den Rand des Sees und von dort weiter, durch das halbhohe Buschwerk, durch knöcheltiefen, leicht verharschten Schnee, bis zum Wald.
Im schwachen Mondlicht zog er aus der Tasche die Karte, aber er konnte kaum etwas darauf erkennen. Er nahm die Richtung nach Westen auf und schleppte sich weiter. Manchmal drohte er umzufallen, und dann lehnte er sich minutenlang an einen Stamm. Die Kälte stach in seinem Körper, und dort, wo die gefrorene Kleidung an der Wärme des Körpers auftaute, verursachte sie ihm Frostschauer.
Am Morgen sah er wieder auf die Karte. Er befand sich in der Gegend um Haselgarten. Er stand an einen Baum gelehnt und beobachtete das Land.
Weit im Westen lag das Dorf. Er konnte es sehen. Es lag im Morgendunst, und Bindig zweifelte daran, daß er noch die Kraft aufbringen würde, sich bis dahin zu schleppen. Von Haselgarten aus konnte es nicht mehr weit bis zur Front sein, und Bindig rechnete damit, daß später, wenn die Artillerie zu schießen begann, er auf diese Weise die Richtung gewiesen bekommen würde. Aber was nutzte die Richtung, wenn es ihm nicht mehr möglich war, die Entfernung zurückzulegen? Er mußte jetzt sehr vorsichtig sein. Öfter als sonst bewegten sich Kolonnen auf Straßen und Nebenwegen. Hier und da waren Geschütze abgestellt. Es war alles in Bewegung.
Es war ein emsiges Hin und Her, und Bindig zweifelte langsam daran, daß er es überhaupt bis zur Front schaffen würde.
Das, womit er hier zu rechnen hatte, war nicht mehr ein einzelner Posten, den er bei Nacht überfiel. Das war eine ganze Armee mit allem, was sie für die nächste Offensive aufbot. Es war ein Heerlager von riesigen Ausmaßen, dessen Dichte Bindig unglaublich erschien.
Der weiße Umhang war so zerrissen, daß er hinter Bindig auf dem Schnee schleifte. Er zog ihn ab und ließ ihn einfach liegen. Während er sich weiterschleppte, merkte er, daß seine Kräfte zu Ende waren. Seine Schritte wurden immer unsicherer, und die Schmerzen zermürbten ihn, seit er keine Tabletten mehr dagegen nehmen konnte. Er besaß noch zwei Zigaretten, aber sie waren ebenso wie die letzten Schmerztabletten im Eiswasser des Sees aufgeweicht und unbrauchbar geworden. Das Feuerzeug hatte er irgendwo verloren. Er bedauerte es nicht. Er hatte überhaupt nicht mehr die Kraft, etwas zu bedauern. Er schleppte sich vorwärts. Das einzige, wozu er sich aufraffte, war die Aufmerksamkeit, mit der er die Gegend beobachtete. Es war die Angst, die ihn dazu trieb, aber das merkte er nicht.
Gegen Mittag brach er das erstemal zusammen und blieb zwischen den dürren Büschen des Graslandes, das er überquerte, eine Stunde liegen. Er fühlte sich nicht gestärkt, als er aufwachte, aber es gelang ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Als der Tag zu Ende ging, lag er auf einer Böschung am Rande des Hohlweges, der einmal von Haselgarten zur Front geführt hatte, und sah hinüber nach dem Gehöft, in dem Anna gewohnt hatte.
Es bereitete ihm ein wenig Schmerz, diese Gegend noch einmal zu sehen, aber seine Fähigkeit, etwas zu empfinden, war in den letzten beiden Nächten abgestumpft, und er bestand nur noch aus einem Bündel Knochen und Muskeln, das schlaff und kraftlos dem Lebensinstinkt folgte. Er konnte das Gehöft deutlich sehen. Es schien nichts verändert zu sein. Offenbar hatte das Haus bei den Kämpfen keinen Treffer abbekommen. Auch der Zaun stand noch, aber das Hoftor war offen. In den Fenstern saßen noch die alten, zusammengestückelten Scherben. Nach einer Weile schien es Bindig, als steige aus dem Schornstein eine feine Rauchfahne empor. Aber er konnte es nicht genau erkennen, denn hinter dem Haus stand eine dunkelgraue Wolke, von der sich der Rauch, der aus dem Kamin stieg, nicht abhob.
Die Frau erschien ganz plötzlich auf dem Hof. Sie trat aus der Haustür und stellte einen Eimer mit Futter ins Freie, so wie sie es oft getan hatte, wenn Bindig bei ihr gewesen war. Sie trug ein rotes Kopftuch und hielt sich nicht lange im Hof auf. Sie stellte nur den Eimer ab und ging ins Haus zurück. Hinter der grauen Wolke lag Westen. Aus der gleichen Richtung kam gedämpftes Gewummer von Geschützen. Ein paar einzelne Schüsse, die wenig Bedeutung hatten. Die Schneefläche um das Dorf war zerwühlt und schmutzig. Sie war mit Granatlöchern übersät. Da und dort lag zerschossenes Gerät. Es hatte die letzten Tage nicht mehr geschneit.
Bindig sah ungläubig, fast erschrocken auf das Gehöft. Es war ihm, als täuschten ihn seine Sinne. Er blickte nach der anderen Seite, zum Dorf. Die Soldaten mußten wohl in den Kellern hausen, denn über der Erde gab es nach den letzten Kämpfen kaum noch ein heil gebliebenes Gebäude. Zwischen den Ruinen standen Fahrzeuge. Bindig sah von dort wieder auf das Gehöft, und dann begriff er, daß er keiner Täuschung zum Opfer gefallen war. Dort stand der Eimer vor der Tür. Es gab keinen Zweifeclass="underline" Hinter der Tür, in derselben Küche, in der Bindig zum erstenmal zusammen mit ihr an einem Tisch gesessen hatte, war Anna. Er versuchte aufzustehen. Es gelang, aber er brauchte fast alle seine Kräfte dazu. Er rutschte aus und fiel die Böschung hinunter. Als er sich am Boden des Hohlweges wieder aufgerafft hatte, torkelte er schrittweise vorwärts. Er wußte plötzlich, daß dies die letzte Anstrengung war, zu der er sich zwingen konnte.
Es war stockdunkel, als er das Gehöft erreicht hatte. Das Hoftor war noch immer offen. Als Bindig es passiert hatte, begann das Haus vor seinen Augen zu schaukeln und zu kreisen. Mit Mühe gelang es ihm, die Haustür zu öffnen. Er tastete sich mit halbgeschlossenen Augen durch die Dunkelheit des Flurs. An der Küchentür nahm er einen Lichtschein wahr. Er wußte nicht, daß sein Gesicht und seine Kleider blutverschmiert waren, daß seine Hände voller verkrustetem Blut und Schmutz waren, daß sein Gesicht bleich und hohlwangig aussah und der Fetzen, den er um den Kopf gewickelt hatte, einem roten Fahnentuch ähnlicher sah als einem Stück weißer Leinwand.