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Er tastete nach der Türklinke und drückte sie herunter, und als die Tür nachgab, stürzte er der Länge nach in die Küche.

Er hatte den Offizier, der am Tisch saß, noch wahrgenommen, aber weder ahnte er, daß es Warasin war, noch, daß er gekommen war, um Anna eins von den großen, in Formen gebackenen Kommißbroten und ein paar kleine Säckchen mit Hirse und Bohnen zu geben. Er hörte die Frau nicht mehr aufschreien und sah nicht mehr, wie Warasin aufsprang und zu ihm eilte.

Die Frau schlug die Hände vor das Gesicht. Warasin rüttelte Bindig. Dabei fragte er aufgeregt: »He… hören Sie! Wie kommen Sie… in diese Uniform…«

Dann sah er unter dem verrutschten Fetzen Stoff die Wunde am Kopf. »Mein Gott!« schrie Anna. »Mein Gott, was ist… was ist nur…«

»Eine Kopfverletzung«, sagte Warasin leise, »geben Sie mir ein paar saubere Tücher und warmes Wasser. Schnell… geben Sie…«

Thomas Bindig: Es starben alle Träume

Er trug den schwarzen Konfirmandenanzug zum zweitenmal. Zum erstenmal hatte er ihn bei der Konfirmation angehabt, und nun wurde der Vater begraben.

Er stand neben der Mutter und hörte ihr Schluchzen, Er sah auch die verweinten Gesichter der drei anderen Geschwister. Es waren alles Mädchen. Kleine, rotznäsige Mädchen mit Zöpfen. Es wollte ihm nicht so recht gelingen zu weinen. Er erinnerte sich, daß er in der Volksschule, wenn er Prügel bekam, niemals vor den anderen geweint hatte. Immer erst später, wenn ihn keiner sah.

Der Anzug war ihm zu eng, aber er würde ihn noch lange tragen müssen.

Der Vater war Werkmeister in der Gummifabrik gewesen, aber jetzt gab es keinen Vater mehr, und er war der Älteste in der Familie. Während der Pfarrer die Trauerrede murmelte, überlegte Thomas Bindig, woher er jetzt das Schulgeld für das Gymnasium nehmen sollte. Und dann zu Hause, als er allein war, weinte er.

Es war Sommer, die Klasse traf sich jeden Nachmittag im Freibad. Die Ferien waren eben erst angebrochen. Auch für das Lyzeum. Da gab es Sabine. Sie holte ihn fast jeden Tag ab, aber er sagte ihr eine Woche lang jedesmaclass="underline" »Heute nicht, Sabine. Vielleicht nächste Woche wieder.« Das war seine Trauer. Den schwarzen Anzug legte er bald ab. Er war zu warm, und die Nähte krachten.

Das Mädchen Sabine trug ein hellblaues Fähnchen und Schuhe mit Korkabsätzen. Manchmal, wenn sie sich trafen, brachte sie ihm eine Büchse Ölsardinen mit oder einen Karton Gebäck. Der Vater handelte damit. Sie lagen nebeneinander auf dem Gras des Rasens im Schwimmbad und versuchten sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn sie Mann und Frau wären. Sie Kinderärztin und er Jurist. Das lag noch weit in der Ferne. Der eine dachte über den anderen nach, unter der heißen Glocke des Himmels, während des Lärms der Kinder, die das Planschbecken bevölkerten, und während die Musik aus dem Lautsprecher ertönte. Sie hatten beide sehr braune Haut und sahen gesund aus, und die anderen wußten längst, daß sie unzertrennlich waren.

Aber das Leben hat seine Gesetze. Eines Tages sagte er zu Sabine: »Ich werde doch anfangen müssen zu arbeiten. Wir schaffen es nicht, wir sind fünf, und Mutter verdient nicht viel. Wenn ich mir was suche, wird es gerade ausreichen.«

Das Mädchen war hellblond. Es hatte sehr dunkle, große Augen. Es fiel ein wenig auf in diesem Schwimmbad. Es hatte einen zierlichen Gang und die Angewohnheit, im Gehen das Haar zurückzuwerfen.

Sie stellten Bindig in der Stadtbibliothek ein. Er verdiente nicht viel, aber Bücher waren ihm nicht fremd. Nach ein paar Wochen schon beriet er die Leute, und es gab welche, die sich nur von ihm bedienen ließen und die gingen, um ein andermal wiederzukommen, wenn er einmal zufällig nicht anwesend war.

Als Sabines Vater das Auto kaufte, sah Bindig sie seltener. Sie vertröstete ihn auf später. Manchmal ging er nach der Arbeit an ihrer Wohnung vorbei in der Hoffnung, sie anzutreffen. Aber er traf sie nicht. Er begann, seine Zeit über Rilke zu verbringen. Manchmal auch über Hölderlin.

Dann war er siebzehn. Er hatte Geld gespart und leistete sich mit Sabine einen Ausflug ins Bergland an der Weser. Sie trug ein buntes Kleid, das ihr der Schwager aus Paris geschickt hatte, und er hatte es fertigbekommen, einen neuen Anzug zusammenzusparen. Aber sie hatten Pech, denn die Gegend, die sie sich ausgesucht hatten, wimmelte von Fahrtengruppen der Hitlerjugend, und sie konnten keine hundert Schritt gehen, ohne daß ein paar von den Uniformierten ihnen entgegenkamen oder sie überholten und sich über die »Sonntagsknülche« lustig machten.

Sie hatten beide ihre Mitgliedsbücher zu Hause, und bevor sie sich angefreundet hatten, waren sie beide ebenso wie diese Uniformierten sonntags in den Wäldern umhergelaufen, hatten Lagerfeuer abgebrannt und in Zelten übernachtet, und sie kannten beide noch die Strophe auswendig, die erklärte, daß jeder durch ihre Fäuste fallen würde, der sich ihnen entgegenstellte. Aber das lag weit zurück.

Schließlich fanden sie weitab von der Weser einen einsamen Weg, an dessen Rand sie sich für eine Weile ausruhten.

»Nächste Woche muß ich zur Musterung«, sagte er.

Sie machte: »Oh…« Das klang erschrocken. Dann griff sie nach einem Grashalm und zerknickte ihn nervös. »Wirst du mir bald ein Bild schicken, wenn du eingezogen bist?« fragte sie.

Er schickte ihr das erste Bild aus dem Arbeitsdienstlager. Er war dort drei Monate, und sie schrieb ihm zwei Briefe. Er schrieb jede Woche. Dann kam die Kommission, und der Führer erklärte ihnen: »Meldet euch freiwillig zu einem Truppenteil. Euer Vorteil ist, daß ihr auch zu diesem Truppenteil kommt. Wartet ihr, bis man euch holt, müßt ihr dort hingehen, wohin man euch steckt.«

Und dann bot der von der Luftwaffe ihnen seelenruhig die besten Verpflegungssätze, den interessantesten Dienst und die besten Aufstiegsmöglichkeiten an. Er sagte, daß es eine einzige Truppe in der ganzen Wehrmacht gäbe, in der ein Mann beweisen könne, daß er wirklich ein Mann sei, das wären die Fallschirmjäger. Er sprach noch eine Weile darüber. Bindig hatte sich bereits entschieden, ehe noch die Offiziere von den anderen Truppengattungen erklärten, welche Vorteile sie zu bieten hatten.

Er bekam Urlaub, aber nur vierzehn Tage, denn sie drückten ihm gleich im Lager den Einberufungsbefehl in die Hand. Dann lag er noch einmal neben Sabine im Gras, so wie sie oft nebeneinander gelegen hatten.

»Es ist schade, daß ich gerade jetzt fort muß«, sagte er, »es wäre sehr schön geworden. Ich verdiene ein bißchen mehr, und ich habe schon sehr viel Sehnsucht nach dir gehabt.«

»Es ist schade«, sagte sie, »ja, schade.«

»Aber ich komme zurück«, sagte er schnell, »ich komme sicher zurück. Wir schaffen das schon. Schließlich kann man sich nicht drücken, wenn ganz Deutschland kämpfen muß. Wenn ich zurückkomme, heiraten wir.«

Er sagte das so, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres zu sagen. Es war sein Ernst und sein fester Entschluß. Er hatte das Mädchen gern, und er wußte mit Sicherheit, daß sie die Geduld aufbringen würde, auf ihn zu warten.

Er sah, wie sie nickte, und dann saßen sie noch lange irgendwo in einem Cafe und hörten die Schlager aus dem Schallplattenkasten. Es war Sonnabend, aber es tanzte niemand. Es war verboten zu tanzen.

Sie bildeten ihn gründlich aus. Sie zermürbten seine Muskeln in den ersten Wochen so, daß er sich ebenso wie die anderen Rekruten am Treppengeländer anklammern mußte, wenn er abends in der Kaserne zu seiner Stube hinaufstieg. Sie lehrten ihn das Schießen und das Autofahren, das Töten mit allen Waffen und mit jedem beliebigen Gegenstand. Sie brachten ihm bei, wie man einen Schirm zusammenlegt und wie man eine Wunde verbindet, wie man sich abzustoßen hat, wenn man aus der Kabinentür springt, und wie man ein Feuer so anlegt, daß ein Dutzend Männer es nur in stundenlanger, mühsamer Arbeit löschen können. Bald war er völlig überzeugt davon, daß kein Soldat in der ganzen Welt so sorgfältig ausgebildet wurde wie sie und daß die Waffen, die sie führten, jeder anderen Waffe überlegen waren. Er hörte die politischen Vorträge über die Kriegsziele der Alliierten und über die geniale Strategie Adolf Hitlers. Bald begriff er, warum Rückzüge sein mußten, und er fühlte sich stark im Bewußtsein, daß es irgendwo in der Heimat, sicher verborgen, Waffen gab, die jetzt schon imstande waren, den Krieg binnen weniger Tage zu entscheiden. Er ging mit diesem Gefühl an manchem Sonntag aus der Kaserne, und er schrieb sehr zärtliche Briefe an Sabine. Sie schrieb ihm zurück, und sie schrieb jetzt ebenfalls jede Woche.