Am Tag der Besichtigung, als die Rekrutenzeit zu Ende war, fühlte sich Bindig sehr wohl, denn sie hatten gut abgeschnitten, und nun war der strenge Dienstbetrieb zu Ende. Die Front winkte für sie wie eine Erlösung, denn die Alten erzählten, daß an der Front die Hauptbeschäftigung das Schlafen sei.
Er wurde gegen Abend, als er sich zum Ausgehen fertigmachte, zu seinem Unteroffizier befohlen. Der fragte ihn nach seinem Heimatort, und als Bindig ihn nannte, nickte er und fragte weiter: »Haben Sie dort noch jemand?«
»Jawohl«, sagte Bindig.
Der Unteroffizier erklärte ihm langsam: »Herr Major Brandt muß dringend in diese Stadt fahren. Er ist ebenfalls dort zu Hause. Wir haben keinen Fahrer zur Hand. Deshalb werden Sie den Herrn Major fahren. Melden Sie sich sofort bei ihm.«
Der Major wies ihn nur kurz an, er solle sich mit dem Auto vertraut machen und sich auf Abruf bereithalten. Bindig fuhr den Wagen ein paarmal im Kreis um den Kasernenhof. Er machte ihm keine Schwierigkeiten. Der Major fragte ihn, als sie die Kaserne verließen: »Wissen Sie, wohin wir fahren?«
»Jawohl«, antwortete Bindig.
»Wissen Sie auch, warum wir dahin fahren?«
»Nein, Herr Major.«
»Sie haben nicht Radio gehört. Gestern nacht hat die Stadt einen schweren Fliegerangriff erlitten. Ich hoffe, meine Familie lebt noch…«
»Oh…«, entfuhr es Bindig. Sekundenlang fuhr er unsicher, denn er dachte an Sabine und ein klein wenig auch an die Mutter und die Geschwister.
Der Major war Studienrat gewesen. Bindig hatte ihn nicht mehr als Lehrer kennengelernt, denn jetzt war er schon viele Jahre Soldat. Aber Bindig kannte die Gegend am Stadtrand, in der die Villa des Majors stand. Er erinnerte sich sogar an das Haus, und er fand es, ohne zu fragen. Es stand so, als habe sich in der Stadt nichts ereignet, und die Frau des Majors lud ihn ein, in das Haus zu kommen. Er bat sich die Erlaubnis aus, nach seinen Leuten sehen zu dürfen, und der Major überließ ihm den Wagen.
An manchen Stellen der Stadt schwelten noch Brände. Die Menschen liefen verstört durch die Straßen. Es war am frühen Morgen, er mußte viele Umwege machen, denn ein Teil der Straßen war nicht befahrbar. Aber er kam doch ans Ziel. Er fuhr zuerst an der Wohnung der Eltern vorbei, weil die am nächsten lag. Als er in die Straße einbog, nahm er unwillkürlich den Fuß vom Gashebel und begann zu überlegen, wo das Haus gestanden hatte.
Die Leute gaben ihm nur unwillig Auskunft. Aber dann erfuhr er, daß der Keller bereits freigelegt wäre und sie die Leichen noch in der Nacht beerdigt hätten. Der Zigarettenhändler an der Ecke, dessen Laden noch unzerstört war, nahm ihn bei der Schulter und zog ihn in seinen Laden. Dort goß er ihm ein Glas Kognak ein und sagte väterlich: »Laß sein, Junge, du mußt nicht so oft daran denken.«
Bindig ließ den Kognak stehen und raste mit dem Wagen weiter, an den schwelenden Trümmern und an den Gruppen der verwirrten Menschen vorbei, zu Sabine.
Das Haus mit der Feinkosthandlung, das Sabines Eltern gehört hatte, war ausgebrannt. Seine Mauern standen noch, und an der rückwärtigen Seite stand eine Kette von Pionieren. Einer von ihnen oder auch mehrere mußten im Keller des Hauses sein, denn der Pionier, der dem größten Kellerfenster am nächsten stand, nahm durch die Lücke in der Mauer die Eimer entgegen, die man ihm von unten heraufreichte. Er gab sie weiter, und sie wanderten durch die Kette, bis sie der letzte Mann mit einem Schwung in einen Lastwagen entleerte.
Bindig hastete um das Haus herum und versuchte irgendetwas zu entdecken, was darauf hinwies, daß Sabine noch lebte. Er sah, daß eine Sprengbombe das Haus vom Boden bis zum Keller durchschlagen hatte, ohne zu krepieren. Ihre Hülle lag in dem dunklen Kellerraum. Es war ein Ausbläser gewesen. Sie war unten aufgeschlagen, und anstatt zu explodieren, war die Ladung schnell und mit großer Hitze verbrannt. »Das gibt’s auch«, sagte einer der Pioniere gleichmütig, als er Bindig herumlaufen sah, »spar dir die Mühe, Kamerad, die Leute sind verbrannt. Und Knochen sehen alle egal aus.«
Von unten, aus dem verkohlten Loch, rief eine Stimme: »Gebt mal ’ne Schaufel ’runter. Ich kriege das nicht in den Eimer!«
Es gab nichts mehr in der Stadt, was Bindig hätte suchen können. Es gab niemand, mit dem er hätte sprechen wollen. Er steuerte den Wagen durch die mit Trümmern übersäten Straßen und legte sich irgendwo hinter den Villen am Stadtrand so lange ins Gras, bis es Zeit war, den Major zu holen.
Der Major war aufgeräumt und zuversichtlich. Es wiederholte sich selten ein Angriff wie dieser. Seine Familie hatte den Krieg, soweit er aus der Luft kam, überstanden.
Er sagte mit einem zugekniffenen Auge zu Bindig: »Diese Schlumpschützen! Unsere Fabriken wollten sie treffen!
Das Gummiwerk und die Autofabrik, und was haben sie getroffen? Ein paar lumpige Wohnhäuser! Es hat nicht gelohnt, daß sie die vielen Kilometer geflogen sind.«
»Sollten sie so weit danebengezielt haben, Herr Major?« fragte Bindig. »Die Werke liegen ziemlich weit außerhalb. Nichts ist aus der Luft besser zu erkennen als diese Werke.«
»Banditen!« brummte der Major. »Die Banditen hatten zuviel Angst, um richtig zu zielen! Ist in Ihrer Familie alles in Ordnung?«
»Tot«, sagte Bindig.
»Oh«, machte der Major. Dann sagte er: »Ich werde dafür sorgen, daß Sie Urlaub bekommen. Sofort, wenn wir zurück sind, werde ich veranlassen, daß Sie Urlaub bekommen. Mein Beileid, Junge, das ist sehr hart für Sie…«
»Danke«, antwortete Bindig.
Er nahm keinen Urlaub, denn er wußte nicht wozu. Es würde keine Begräbnisse in der Stadt geben, denn es wußte niemand mehr, wer sich da gerade in dem Häufchen von Überresten befand, die verscharrt wurden.
Dann kam der erste Einsatz. Bindig dachte nun nicht mehr daran, daß der Krieg ja eines Tages vorbei sein würde und er wieder heimgehen konnte. Für ihn war jeder, gegen den er kämpfte, einer, der Sabine getötet hatte, und das war so lange der Fall, bis er Zado näher kennengelernt hatte und bis er so viele Tote gesehen hatte, daß er sich zu fragen begann, ob das jemals ein Ende nehmen würde. Irgendwo, in dem Hinterzimmer einer Spelunke, nahm er zum erstenmal ein Mädchen. Es hatte schlaffe, spitze Brüste und einen spinnigen, dürren Körper, aber es war ihm gleich. Er nahm sie, und er nahm später die Witwe, die ihn zum Kaffeetrinken einlud, und die andere, deren Mann vermißt war, und eine mit blondem Haar, ohne daß er dabei an Sabine erinnert wurde.
Ihr Bild verblaßte schnell, wie oft die erste Jugendliebe sehr schnell vorbeigeht. Die Erinnerung versank, und er tötete längst nicht mehr, weil er sich einbildete, Sabine zu rächen, sondern weil er es gelernt hatte wie ein Handwerk, Manchmal sehnte er sich nach seinen Büchern zurück und nach seiner Bibliothek. Aber diese Gedanken zwischen der Todesangst der Einsätze und dem erschöpften, bleiernen Schlaf nach der Rückkehr waren blaß und kraftlos. Sie verflogen wie die Erinnerung an Sabine. Und da war Timm. »Macht es euren Weibern noch mal richtig«, sagte Timm, »morgen nacht hüpfen wir.«
Sie lagen in einem Ort, in dem es noch Frauen gab. Manchmal hatten sie in einem Quartier, in dem sie zu fünft lagen, alle zusammen eine Frau oder zwei. Einmal war es eine Mutter mit ihrer Tochter, und sie drehten das Licht nicht ab dabei. Die Frauen hatten in diesen Dörfern gewohnt, und sie kamen zu den Soldaten, weil sie wußten, daß in ihrem Gepäck noch holländischer Eierlikör war und amerikanische Beutezigaretten. Sie wußten, daß die Soldaten Schokolade bekamen und Bananenschnitten und Zucker. Und mancher von denen, die im Westen gewesen waren, hatte in seinem Gepäck noch ein seidenes Halstuch.