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»Es sind Puppen dabei…«, sagte einer schlaftrunken.

Die unruhigen Nächte, wenn der Schlaf federleicht ist und wie ein Spiegel, aus dem einen die Augen der Toten anblicken. Wenn die Träume kommen und die Schreie, von denen man erwacht, schweißgebadet, verwirrt. Und dann die Stunden, in denen man wach liegt und die Augen der Toten sieht, ob man sie sehen will oder nicht. Am Morgen beim Antreten das Schafsgesicht Alfs und der Geruch nach Leder und Schweiß, und ostwärts in der Ferne das Gemurmel der Geschütze.

In der nächsten Nacht sind sie wieder östlich dieses Gemurmels. Sie sind zahlreich diesmal. Sie greifen ein Munitionslager an, eins von den kleinen, die weitab von den Hauptstraßen liegen und deren Wachpersonal nicht sehr zahlreich ist. Da ist ein Graben und ein bißchen Stacheldraht.

Sie lauern am Saum der Büsche, und da steht der Außenposten, von dem sie wissen, daß er in einer Viertelstunde abgelöst wird. Dann geht er heim, und der nächste beginnt seine Wache. Sie dauert zwei Stunden. Diese zwei Stunden sind sicher; in diesen zwei Stunden wird niemand danach fragen, ob der Posten noch lebt. In diesen zwei Stunden werden sie ihn töten, und sie werden sich über das Lager ergießen wie eine Legion, die aus der Hölle kommt. Es wird keinen Überlebenden geben. Nur Tote. Das Lager wird nicht mehr sein, wenn sie es überfallen haben.

Aber der Krieg wird weitergehen, denkt Bindig. Es wird sich nichts ändern, denn dieses lumpige Lager ist so lächerlich unbedeutend für die Armee in den Pelzmützen, daß sie es kaum spüren wird, wenn es ausfällt.

Timm ist dabei. Timm ist immer dabei. Er sieht auf die Uhr, und dann hebt er den Arm. Es geht schnell, denn es darf nicht sehr lange dauern, wenn sie davonkommen wollen. Bindig läuft neben Zado, als sie im Wald verschwinden, keuchend, mit geschwärzten Gesichtern, die Maschinenpistolen mit den halbleergeschossenen Magazinen in der Hand. Sie laufen nebeneinander, als hinter ihnen die Ladungen explodieren und die Stapel der Munition zerreißen. Es ist ein höllisches Konzert. Der Himmel ist für lange Sekunden taghell erleuchtet, bis diese Helle dem rötlichen Widerschein des Brandes weicht, der das letzte zerstört, was einmal ein Munitionslager war.

Sie laufen an Timm vorbei, der zurückbleibt, um die letzten anzuspornen.

Es gibt ein Lied, das sie zuweilen singen. Über die, die in Spanien waren als Legionäre. Timm, der sie an sich vorbeilaufen läßt, steht mit geschwärztem Gesicht, die Maschinenpistole in den schwarzen Händen, am Rande des Waldweges. Er steht halb gebückt, gleichsam sprungbereit, noch erhitzt von dem Überfall. »Vorwärts, Legionäre!« ruft er ihnen grinsend zu. Mit jenem Grinsen, das zugleich Anerkennung und eigene Befriedigung ist. Er ruft ihnen den Kehrreim des Liedes zu. Das tut er manchmal.

»Wir sind schon eine Legion…«, sagt Bindig schwer atmend, als sie im Schritt weitergehen.

Es ist alles genau auf die Minute ausgerechnet wie immer. Ihre Chance liegt darin, genau auf die Minute am Startplatz zu sein. Sind sie das nicht, fliegt die Maschine heim. Dann haben sie die Verfolger auf der Fährte, die jetzt gerade erst aufbrechen.

»Eine Legion…«, sagt Zado. Er wirft die Maschinenpistole über die Schulter. »Das sind wir. Wir sind eine verflucht höllische Legion. Eine, die aus der Nacht kommt und die Hölle zurückläßt, wo sie gewesen ist.«

Sie fliegen nach Haselgarten zurück. Tage später sagt Bindig zum erstenmal zu Zado: »Da ist diese Frau in dem einsamen Gehöft hinter dem Dorf… eine eigenartige Frau…«

Sie sind leer. Sie sind ausgepumpt wie immer, wenn sie zurückkommen. Sie sind müde und trotzdem schlaflos. Wenn sie schlafen, finden sie keine Ruhe im Schlaf.

Sie spielen Karten und trinken. Schreiben Briefe nach Hause oder an die Bräute. Gehen zu den Weibern, die in der Gegend herumlungern, oder holen sie in die Quartiere.

»Eine eigenartige Frau?« wiederholt Zado schläfrig. »Sie kommt dir eigenartig vor, weil sie nicht für Schokolade mit uns schläft, nicht einmal mit Alf. Sie ist wirklich eine eigenartige Frau, aber eigentlich ist sie gar nicht so eigenartig, es kommt dir nur so vor…«

Er ist jetzt zwei Tage in dem Zimmer. Die Kopfwunde schmerzt noch, aber der Schmerz ist nicht mehr unerträglich. Die Wunde heilt. Er hat viel geschlafen. Es ist dunkel im Zimmer, aber es ist so, wie es sonst war. Nur Warasin ist dabei. Er sieht gut aus in der Uniform. Und er hat ein anderes Gesicht. Das ist nicht mehr der grinsende Schwachsinnige, der Taubstumme. Das ist auch nicht mehr der Mann, den Bindig zusammenschlug.

»Ich mache jetzt etwas zu essen«, sagt Anna. Sie hat ein Tuch um die Schultern gelegt, als fröre sie. Sie zieht es über der Brust zusammen, als sie die Stube verläßt. Sie läßt die Männer allein. Sie weiß, daß sie Warasin und Bindig allein lassen kann.

Bindig hat einen klaren Kopf. Ein wenig benommen ist er noch immer, aber er kann denken. Er macht keine Fehler dabei. Er weiß, daß er in einiger Zeit wieder völlig gesund sein wird. Das gibt ihm einerseits Zuversicht, aber es gibt ihm auch eine Menge Rätsel auf. Er liegt auf dem Bett und raucht – Zigaretten von Warasin. Welche mit langen Pappmundstücken. Man darf sie nicht ganz aufrauchen, sonst verbrennt man sich die Zunge. Und man muß die Pappmundstücke zusammendrücken.

Er sieht das Gesicht Warasins, dann sagt er langsam: »Ich bin in einer Situation, die aufs Haar der gleicht, in der Sie sich vor ganz kurzer Zeit befanden. Und Sie sind in der gleichen Situation, in der ich mich damals befand. Keine einfache Sache…«

Es dauert eine Weile, bis Warasin etwas antwortet. Er zieht an seiner Zigarette und blickt dem Rauch nach, der für ein paar Sekunden im Halbdämmer zu sehen ist, das durch das Fenster hereinkommt.

»Es ist eine einfache Sache«, sagt Warasin dann. »Sie ist sehr unkompliziert. Und ganz anders als die, von der Sie sprechen. Für Sie ist der Krieg zu Ende, bevor Ihre Armee endgültig besiegt ist. Sie haben Ihr Leben gerettet. Sie werden in der Gefangenschaft Gelegenheit haben, zu überlegen, wie Sie Ihr Leben in Zukunft besser nutzen können. Wenn der Krieg aus ist und Sie zurückkommen, werden Sie manches wissen, was Ihnen vorher unbekannt war. Sie werden neu anfangen. Eine sehr einfache Sache für Sie. Sie haben Glück gehabt.«

Bindig lächelt. Er kennt das. Warasin spricht es zum erstenmal aus, aber es hat in der Luft gelegen, seit sie einander vor zwei Tagen wieder gesehen haben.

»Eine einfache Sache?« fragt er lächelnd. »Sie vergessen, daß Sie Offizier sind. Was geschieht in Ihrer Armee mit Leuten, die einen Deutschen, der sich in ihrem Gebiet versteckt hält, nicht ausliefern? Was geschieht mit einem Offizier, der ihn sozusagen in Sicherheit bringt, anstatt seinem Kommandeur Meldung zu erstatten?«

»Tue ich das?« fragt Warasin zurück.

Bindig stützt sich auf die Ellbogen. Er sieht nur die Umrisse des Russen. Ab und zu, wenn Warasin an der Zigarette zieht, ist sein Gesicht für eine Sekunde lang rötlich erleuchtet. »Hören Sie«, sagt er, »machen wir uns nichts vor. Sie hätten einen Orden bekommen, wenn Sie mich erschossen hätten, als ich hier ankam. Aber das konnten Sie nicht, denn da war Anna, und Sie sind ihr verpflichtet. Und nun überlegen Sie, was zu tun ist, denn Sie wissen natürlich, was für Sie auf dem Spiel steht, wenn ich hier entdeckt werde, denn es wird bekannt sein, daß Sie gelegentlich Anna besuchen. Aber Sie können jetzt nicht mehr so einfach zu Ihrem Kommandeur gehen und mich ausliefern, denn man wird Sie fragen, weshalb Sie das nicht schon längst getan haben. Was mit Anna geschieht, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Sie würden den Rest Ihres Lebens nicht mehr den Gedanken loswerden, daß Sie einen Menschen ausgeliefert haben, der Ihnen einmal das Leben rettete. So ist die Sache. Nicht so einfach, wie Sie sie sehen.«

Sie hörten Anna über den Hausflur gehen und mit Geschirr klappern. Sie ging in den Stall, um das Vieh zu versorgen. Warasin drückte seine Zigarette aus. Dann sagte er nachdenklich: »Ich glaube, Sie machen einen Fehler. Sie machen ihn, weil Sie nicht wissen, daß unsere Armee anders ist als die, in der Sie gekämpft haben. Deshalb ist es beispielsweise für Sie unverständlich, daß ich keine Angst zu haben brauche, das zu verantworten, was ich getan habe, Es wird weder mir etwas geschehen noch Anna. Es wird auch Ihnen nichts geschehen, wenn Sie in Gefangenschaft kommen. Sie werden dort bis zum Ende des Krieges arbeiten und dabei das lernen, was man Ihnen bisher zu lernen verwehrt hat. Ich muß Ihnen das sagen, denn sonst machen Sie sich von der Lage, in der Sie sich befinden, falsche Vorstellungen.«