Eine Weile war es still. Bindig ließ sich zurücksinken und schwieg. Er hatte geahnt, daß Warasin etwas Ähnliches sagen würde. Er hatte es gefürchtet, aber es war ihm nicht so recht möglich erschienen. Nun war es klar gesagt. Es gab nichts zurückzunehmen.
»Sie sind sehr zuversichtlich, was Ihre Kommissare betrifft…«, sagte er leise. »Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht irren?«
Warasin mußte daran denken, was Balaschow sagen würde, wenn er vor ihm stand und das alles hier zu erklären begann. Der untersetzte, ächzende Balaschow würde ganz still sitzen und zuhören, wenn Warasin das bekannte, was er verschwiegen hatte. Er würde ihn ansehen und den Blick aus seinen kleinen, beweglichen Augen über Warasins Gesicht wandern lassen. Er würde sich kräftig am Kopf kratzen und in den Taschen nach Streichhölzern für seine Zigarette suchen. Er würde den Kopf schütteln wie jemand, der nicht genau versteht, was man ihm sagt.
»Ich bin sicher, nicht zu irren«, sagte Warasin. »Ich kann Ihre Lage sehr gut verstehen. Ein wenig kenne ich den Geist, in dem Sie erzogen wurden. Ich glaube wenigstens, ihn jetzt besser zu kennen als früher. Ich möchte Ihnen helfen, diese Erziehung zu überwinden. Aber ich muß Ihnen die Illusionen nehmen, die Sie haben. Bauen Sie nicht darauf, in mir einen Mann vor sich zu sehen, der in einer Zwangslage steckt. Was ich in den letzten beiden Tagen getan oder nicht getan habe, geschah weniger in meinem Interesse. Es geschah in Ihrem Interesse. Aber das ändert nichts an Ihrer Zukunft. Die Rote Armee wird Sie wie jeden anderen Gefangenen behandeln und Ihnen die Möglichkeit geben, das Leben von vorn anzufangen. Das brauche ich Ihnen nicht besonders zu versichern. Das ist unser Prinzip gegenüber den Soldaten Ihrer Armee, die gekämpft und nicht gemordet haben.«
»Gekämpft?« fragte Bindig. »Wenn Ihre Kommissare mich verhören, werden sie erfahren, wie wir gekämpft haben. Sie werden auch erfahren, in welcher Uniform ich hier ankam.«
»Sie haben keine Angst gehabt, alles das zu tun, was man Ihnen befohlen hat«, sagte Warasin, »aber Sie haben Angst, es zu verantworten.«
Ein Streichholz flammte auf. Dann sagte Bindig, den Rauch der Zigarette zur Decke blasend: »Was täten Sie, wenn Sie morgen oder übermorgen hierherkämen und mich nicht mehr vorfänden? Was würden Sie dann tun?«
Warasin antwortete, ohne zu zögern. »Es würde eine Gruppe ausrücken, um Sie zu suchen. Ich würde diese Gruppe anführen.«
»Und Sie würden auf mich schießen, wenn Sie mich zu Gesicht bekämen?«
»Ich würde Sie töten, wenn Sie Widerstand leisteten.«
»Ich habe es erwartet«, sagte Bindig, »aber warum geben Sie sich dann eigentlich soviel Mühe, mich in die Gefangenschaft zu locken?«
»Weil ich glaube, Sie zu kennen«, sagte Warasin langsam, jedes Wort betonend, »und weil ich glaube, daß man nicht nur Ihnen, sondern einer großen Anzahl deutscher Soldaten in Ihrem Alter wird helfen müssen, damit sie begreifen, wofür sie ihren Mut und ihre Gesundheit eingesetzt haben und was daraus entstanden ist. Man wird vielen helfen müssen, die Wahrheit zu begreifen und im Besitze dieser Wahrheit neu anzufangen. Auch Ihnen. Es lohnt sich, und es ist notwendig. Wir glauben daran. Denn nicht Sie haben den Faschismus in Deutschland herbeigeführt. Sie sind nur von ihm erzogen worden und haben für ihn gekämpft. Er hat Ihr Leben zerstört, indem er Sie ausschickte, unser Leben zu zerstören. Es wird sich erweisen, ob Sie imstande sind, die Wahrheit zu begreifen. Sind Sie ein Faschist, wird man Sie als solchen behandeln. Sind Sie ein Mensch, der den Willen hat, es in Zukunft besser zu machen, dann wird man Ihnen dazu alle Möglichkeiten geben.«
Die Zigarette glimmte auf und beleuchtete Bindigs Gesicht. Er sprach leise, während draußen auf dem Flur wieder Anna vorbeiging, die aus dem Stall zurückkam.
»Das sagen Sie, ohne zu wissen, ob der Krieg damit endet, daß Sie in Berlin einmarschieren oder wir in Moskau?«
Warasin war aufgestanden und ans Fenster getreten. Er drückte eine neue Zigarette zurecht und steckte sie zwischen die Lippen. Nachdem er sie angezündet hatte, blieb er eine Weile am Fenster stehen und blickte nach draußen. Der Schnee überzog die Erde wie ein Teppich. Auf den Ästen der Obstbäume in Annas Garten lagen schwere Batzen der weißen Kristalle. Es war kalt geworden, und die Nacht war sternenklar.
Warasin dachte an Balaschow. Er hörte, wie Anna die Küchentür öffnete.
»Sie haben noch Zeit, nachzudenken«, sagte er zu Bindig, »denken Sie gut nach. Der Weg, den ich Ihnen beschrieb, dient dazu, Ihr Leben zu erhalten und Ihnen eine Zukunft zu sichern. Vielleicht auch Anna, denke ich. Denn wir werden nach Berlin marschieren und den Faschismus ausrotten. Wenn Sie Gelegenheit hätten, unsere Armee zu sehen, würden Sie keinen Augenblick daran zweifeln. Ich werde morgen abend kommen. Bis dahin werden Sie sich entschließen.«
In der Tür stand Anna. Sie trug Geschirr in beiden Händen und sagte: »Georgi, auf dem Fensterbrett steht die Kerze. Zünden Sie sie an, und ziehen Sie die Decke vor die letzten beiden heilen Scheiben…«
Die Stunde der Wölfe
Wenn Timm den Kopf um ein paar Zentimeter hob, konnte er sehen, wie Zado auf die Mühle zuschlich. Da war ein Graben, an dessen Seite eine Reihe Büsche stand. Die Büsche hatten den Schnee abgefangen und zu einer Wehe aufgetürmt, hinter der sich Zado verbergen konnte. Timm sah ihn undeutlich, denn Zado hatte noch immer das Schneehemd an, und manchmal verschmolz das beschmutzte Weiß des Schneehemds völlig mit dem Schnee des Grabens.
Es war ein weiter Weg, aber Zado kroch unentwegt vorwärts. Er schien keine Müdigkeit zu kennen. Sie waren jetzt zwei Tage unterwegs, ohne zu schlafen und zu essen, aber Zado war außer dem bärtigen Gesicht nichts anzumerken.
Während Timm sich aufrichtete, um den Vorwärtskriechenden besser beobachten zu können, schmerzte seine Schulter wieder. Die Kugel mußte den Knochen zerschmettert haben. Timms linker Arm hing in einer Schlaufe, die Zado aus einem Streifen des Schneehemds geknüpft hatte. Er versuchte nicht, ihn zu bewegen, auch nicht die Finger, denn er wußte, daß dann der Schmerz unerträglich wurde. Wenn ich nicht spätestens morgen in ein Lazarett komme, dachte er, dann kriege ich den Brand in die Wunde. Das ist das Ende. Er zog die Beine näher an den Körper und lagerte sich etwas bequemer. Er hatte noch die Maschinenpistole, und er konnte sie zur Not mit der einen Hand bedienen. Er legte sie in die Astgabel vor sich und dachte daran, wie die Panzer auf dem Holzplatz ankamen.
Es war mit der Sprengung nicht so schnell gegangen, wie es vorgesehen war. Zuerst hatten sie den Mann suchen müssen, der an der Zündung saß. Sie fanden ihn mit heruntergelassenen Hosen hinter einem Baumstumpf und trieben ihn zu seinem Zündmechanismus. Aber irgendeiner von den anderen hatte eins der Kabel beschädigt, und die Zündung funktionierte nicht. Der Mann band sich die Hosen fest und lief auf den Holzplatz hinaus, während die anderen sich im Wald verkrochen und Timm den Befehl erteilte, daß sich jeder selbst in Sicherheit bringen und die Front zu Fuß überqueren solle. Dann hockte er sich selbst an die Zündanlage und drehte ohne Erfolg ein paarmal an dem Griff, während der Soldat auf dem Platz noch immer die Unterbrechung im Kabel suchte. Er fand sie in dem Augenblick, als Zado über die Lichtung gerannt kam. Er kam aus dem Waldweg, von dort, wo sie die Fahrer aus den Wagen gezerrt hatten, und Timm rief ihn an. Auf der Straße waren die Geräusche der Panzer zu hören.