Zado ließ sich neben Timm fallen, und Timm sagte hastig: »Los, fort! Sieh zu, wie du durchkommst!« Aber in diesem Augenblick preßte der Soldat auf dem Holzplatz die beiden Enden des zerrissenen Drahtes aneinander, um sie wieder zu verbinden. Er wußte nicht, daß der Hebel an der Zündanlage eingeschaltet war. Die Explosion warf ihn in die Luft und zerriß ihn, bevor er einige Meter über dem Erdboden war. Sie schleuderte Timm mit dem Kopf gegen einen Baumstamm und warf Zado halb betäubt ins Unterholz. Als die beiden wieder zu sich kamen, erschien der erste Panzer auf dem Holzplatz und schoß eine Salve aus seinem Maschinengewehr in den gegenüberliegenden Waldrand. Timm preßte die Hand gegen die Schulter, als er getroffen wurde, und stolperte im Schatten der Bäume weiter. Immer hinter Zado her und immer an der Außenseite der Lichtung, auf der sich der Holzplatz befand, bis er im Rücken der Panzer war, an der Straße, ein paar hundert Meter jenseits der Abzweigung des Waldweges. Er sah die festgefahrenen Spuren auf der Straße und sah weit vor sich Zados Schatten verschwinden. Hinter ihm waren das Feuer und das Geknatter aus den Waffen der von den Panzern abgesessenen Soldaten, die den Wald durchkämmten. Er hörte das Sägen der Maschinenpistolen und das leise Zirpen, wenn die Geschosse in seiner Richtung flogen. Dazwischen die Detonationen der Handgranaten und die Kommandorufe, die Trillerpfeifen der Zugführer. Dann hörte er den Abschuß einer Panzerkanone und sah, daß die Straße vor ihm frei war. Er dachte: So weit du kannst, auf dieser Straße, und dann seitwärts verschwinden. Das ist die Chance! Und er lief.
Er merkte bald, wie das Feuer hinter ihm immer leiser wurde, aber er spürte auch, wie der Schmerz in dem zersplitterten Knochen zunahm. Als er eine Zeitlang gelaufen war, verfiel er in einen langsameren Schritt, und von nun an brachte er es nicht mehr fertig zu laufen. Wenn er einen schnellen Schritt machte, biß er sich auf die Lippen. Er sah Zado nicht mehr vor sich. Aber Zado sah ihn.
Zado hockte in einem Fichtengestrüpp und beobachtete, wie Timm mit weichen, nicht mehr sicheren Schritten auf ihn zukam. Als er an ihm vorüberging, rief er ihn an. Sie krochen hintereinander weiter in das Gestrüpp hinein und waren bald außer Hörweite der Straße. Sie kamen nur langsam vorwärts, aber sie krochen keuchend weiter, bis sie keinen Laut mehr vernehmen konnten, weder die Schüsse am Holzplatz noch ein Fahrzeug, das auf der Straße vorbeifuhr.
Da sagte Zado: »Ich glaube, wir haben sie abgehängt.«
Timm ließ sich schwer atmend, mit dem Rücken an eine Fichte gelehnt, nieder. »War Zeit«, quetschte er heraus. »Es hat genau noch bis hierher gereicht.«
Zado griff nach der Kognakflasche in der Knietasche. Er trank und reichte Timm die Flasche. Dabei beugte er sich ein wenig zu ihm herüber und sah, daß der Unteroffizier verwundet war.
Als er ihn verbunden hatte, nahm er einen weiteren Schluck und sagte: »Wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich dich vorbeilaufen lassen. Es kommt nichts dabei heraus, wenn man mit einem halben Krüppel zusammen zu türmen versucht.«
Timm sah ihn an, aber er sagte nichts. Sie hockten und lauschten und warteten darauf, daß ihr Pulsschlag sich beruhige.
»In diese Richtung sind sie gar nicht gekommen«, sagte Timm langsam, nachdem er lange Zeit stillgesessen hatte, »sie haben nicht damit gerechnet, daß einer um den Holzplatz herum auf die Straße zuläuft. Ich denke, jetzt werden sie langsam alle haben…«
Es klang ängstlich. So als fürchte er, die Suche konnte sich auch noch auf die Gegend erstrecken, in der sie sich aufhielten.
»Alle, außer Timm und Zado«, brummte Zado. »Wie kam das überhaupt? Welcher Idiot ist daran schuld?« Er schüttelte den Kopf, als er hörte, wie es zugegangen war.
Es war eine Weile still. Sie lauschten beide, aber es war um sie herum nichts zu hören. Dann wischte Zado den Schnee vom Lauf seiner Maschinenpistole und sagte nachdenklich: »War Bindig nicht jenseits der Straße?«
Timm nickte.
»Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, daß sie ihn erwischt haben…«, sagte Zado.
»Ob wir eine Zigarette rauchen?« fragte Timm. Zado bewegte gleichgültig die Schultern. Dabei sagte er: »Sie kriegen uns so und so, ob wir rauchen oder nicht.« Er zog eine Zigarette heraus und steckte sie an. Während er Timm das brennende Zündholz hinhielt, fragte er: »Kannst du noch laufen?«
»Ja, ich kann.«
»Wie lange?«
»Bis ich umfalle«, antwortete Timm, »hier bleibe ich jedenfalls nicht.«
Zado zog seine Landkarte aus der Tasche. Er schlug sie auf und fuhr mit dem Finger über das Papier. Er konnte die Schrift nicht lesen, denn durch die dichtbeschneiten Äste fiel nur ein schwacher Schein Mondlicht.
»Und wann wirst du umfallen?« fragte er gleichmütig. »Wir haben drei Tage zu laufen, bis wir in der Nähe der Front sind.«
Er suchte auf der Karte, und dabei beugte er sich tief über das Papier, um besser sehen zu können. Schließlich fand er die Straße, und dann stellte er Berechnungen an, wie weit sie bereits nach Westen gekommen waren. Er merkte, daß seine Finger, die die Karte hielten, zitterten. Aber er zwang sich dazu, nicht an das zu denken, was auf dem Holzplatz geschehen war, auch nicht daran, daß jeden Augenblick eine Streife diesen Teil des Waldes durchkämmen konnte. Er suchte so lange, bis er glaubte, sich zurechtzufinden, und entdeckte dabei gleichzeitig, daß es einen Fluchtweg gab, der einigermaßen aussichtsreich erschien. Aber er war weit, und wer konnte wissen, wie lange Timm durchhielt?
Dieser Timm, dachte er, man wird ihn mit einer Zaunlatte erschlagen müssen, sonst stirbt er nie. Wenn wir zurückkommen, gibt es außer mir keinen mehr, der mit ihm zusammen angefangen hat. Aber ob wir zurückkommen? – Er kniff die Augen zusammen und stierte auf die Karte. Dieses verfluchte Land, dachte er, es hat zu viele Schlupfwinkel. Für uns, aber auch für die anderen. Und in jedem dieser Schlupfwinkel steckt etwas anderes. Da ein Munitionslager, dort ein Fahrzeugpark, da Panzer und dort Stalinorgeln.
Es gibt hier mehr Bereitstellungen als Bäume. Und wir zwei wollen durchkommen. Das ist eine Sache, die keine Aussicht hat. Aber wir müssen es versuchen. Es bleibt uns nichts anderes übrig.
»Los!« sagte er rauh zu Timm. »Mach dich auf, wir wollen weiter. Hier wird es in einer halben Stunde von Patrouillen wimmeln!«
Timm hielt sich überraschend gut. Er ließ nicht merken, daß es ihm schwerfiel au laufen. Aber manchmal sah Zado, daß er die Lippen zwischen die Zähne gezogen hatte. Zado führte, und sie schlichen nach Westen aus dem Wald heraus. Es war gegen Morgen, als sie eine buschbewachsene Ebene erreichten, auf der sich nur in sehr großen Abständen ein paar Baumgruppen befanden. Zado starrte in die Dämmerung und versuchte zu erkennen, ob in dem Gelände vor ihnen Menschen waren. Es war nichts zu sehen und kein Laut zu hören. Der Schnee vor ihnen war unberührt, aber sie konnten nicht weit sehen.
»Gehen wir…«, schlug Timm vor.
Zado hielt ihn zurück. Diese Ebene hatte ihre Tücken, und sie würden sich erst zeigen, wenn es genug Licht gab, alles zu erkennen.
»Mir ist nicht wohl«, sagte Zado und sah auf den braunen Mantel, der unter dem weißen Umhang hervorsah. »In diesen Sachen ist mir nicht wohl. Ich komme mir nicht mehr wie ein Soldat vor.«
»Aber es hat sie ein halbes Dutzend Fahrzeuge gekostet«, sagte Timm, »und das ist auch was.«
Zado blickte eine Weile geradeaus, als suche er etwas im Morgendunst. Dann sagte er: »Glaubst du noch im Ernst daran, daß ihnen das etwas schadet? Daß es sie aufhält?«
»Es bringt Durcheinander in ihr System«, sagte Timm. »Es war nicht die beste Aktion. Sie war nicht gut genug vorbereitet.«