»Ich weiß nicht«, sagte Zado zweifelnd, »ob das nur an der Vorbereitung gelegen hat. Ich glaube, diese ganze Art von Kriegführung hat nichts mehr mit Krieg zu tun und ist außerdem aussichtslos. Das ist es.«
Timm brannte sich eine Zigarette an. Er war so müde, daß er jeden Augenblick hätte umsinken können. Er spürte, daß aus der Wunde viel Blut gelaufen war. Es hatte seine Unterwäsche mit einer steifen Kruste versehen, die jetzt scheuerte. Mit dem Blut schien die Energie aus seinem Körper geflossen zu sein. Er zog an der Zigarette und sagte müde zu Zado: »Red nicht soviel Unsinn. Wenn wir zu Hause sind, wirst du dich nicht mehr gern daran erinnern. Laß uns erst mal drüben sein, dann wirst du sehen, wie es weitergeht. Im Frühjahr machen wir aus allem, was uns gegenüberliegt, Hackfleisch für die Konzentrationslager.«
Die Sonne schob sich sehe langsam im Osten über den Horizont. Die beiden Männer konnten sie nicht sehen, aber sie gewahrten den schwachen Schein, der über die Erde huschte, den fahlen Schimmer des Morgens auf dem Schnee. Weit lag die Ebene vor ihnen. Nichts als dickverschneites Buschland. Weiter hinten gab es wieder Seen, aber die waren nicht erkennbar. Zado erhob sich und beobachtete lange Zeit aufmerksam das Gelände. Seinem Auge entging keine Einzelheit, aber es gab auf dieser Ebene nichts, was den beiden Soldaten hätte gefährlich werden können. Sie lag weit von den Verkehrswegen ab, und die Dörfer waren hier nicht sehr dicht gestreut.
»Komm«, sagte Zado, »wir wollen nicht vom Frühjahr reden. Wir müssen jetzt ein paar Stunden ohne Deckung marschieren. Halt die Augen offen.«
Das war vor zwei Tagen gewesen. Zado erinnerte sich nicht mehr genau daran, denn er vergaß schnell, was sich in diesen angsterfüllten Stunden abspielte. Er achtete nicht darauf, er strebte nur mit der unglaublichen Energie eines Tieres vorwärts, dem einzigen Gedanken folgend, hinter die Hauptkampflinie zu gelangen, alles zu überstehen. Timm wußte, daß er ohne Zado niemals durch die Schützenlinie der Roten Armee kommen würde.
Diese Überlegung verlieh ihm Kräfte, die dazu ausreichten, sich Kilometer um Kilometer weiterzuschleppen, immer hinter Zado her, der wie ein Wolf auf der Fährte vorwärts trottete, mit den Augen argwöhnisch alles ringsum beobachtend.
Zado sah sofort, daß die Mühle unbesetzt war. Sie hatte leergeschlagene Fensterhöhlen an der einen Seite. Ein paar Granaten hatten sie getroffen. Sie schienen von Panzern zu stammen, die daran vorbeigefahren und sicherheitshalber einmal hineingeschosscn hatten. Zado sah einen Schwärm Krähen hinter der Mühle auf dem Schnee hocken. Er beobachtete sie eine Weile, dann kroch er weiter, die letzten paar Meter in dem angedeuteten Graben. Die Krähen blieben auf dem Schneefeld hocken. Sie wußten, daß in der Mühle kein Mensch wohnte, der sie hätte aufscheuchen können, und den herankriechenden Soldaten nahmen sie nicht wahr. Zado überquerte den Platz vor der Mühle gebückt, die Maschinenpistole schußbereit, wie eine Katze sich vorwärts bewegend. Seine Augen suchten das Mauerwerk ab, aber sie fanden keine Öffnung, durch die ihn jemand beobachtet hätte. Er verließ sich nicht auf Timm, der hinter den Büschen lag und ihn schützte. Er traute nur seinen eigenen Augen, seinem Instinkt, denn Timm stand nicht mehr fest auf den Beinen. Timm war ohne Energie, er war die letzten Kilometer hinter Zado hergewankt, der unbarmherzig ausgeschritten war, rücksichtslos. Hier an der Mühle war Timm nahe dem Zusammenbrechen gewesen. Er hat längst den Brand in der Wunde, dachte Zado, aber man kann nichts dagegen tun. Man kann ihn nur noch so weit mitschleppen, wie ihn seine Füße tragen, und wenn es vorbei ist, muß man ihn liegenlassen.
Hier gibt es keine andere Überlegung, hier muß sich der retten, der noch die Kraft dazu hat. Wer sie nicht hat, muß verrecken.
Zado lächelte grimmig in sich hinein. Du wirst krepieren, dachte er, und ich werde dich liegenlassen wie einen Hund. Denn ich werde durchkommen. Ich bin bis hierher gekommen und werde es die letzten Kilometer auch noch schaffen. Diesmal komme ich durch, nicht du, Timm. Der Gedanke daran, daß Timm es nicht schaffen würde, verlieh ihm eine große Befriedigung. Mit einem Satz sprang er durch eine Mauerlücke ins Innere der Mühle, sich dabei mit vorgestreckter Pistole einmal im Kreis drehend. Aber es war niemand da.
Er untersuchte das zerschossene, halb verfallene Gebäude bis zum Dach und fand manches, was darauf hindeutete, daß Soldaten hier gehaust hatten. Doch sie waren nicht mehr da. Sie hatten hier einen Haufen leerer Konservenbüchsen hinterlassen und dort ein Häufchen Exkremente, in einer Ecke eine zerrissene Zeltbahn und in einer anderen einen leergeschossenen MG-Gurt. Die Räume waren von den Granaten verwüstet. Balken hingen frei in der Luft, und stellenweise gähnten in den Dielen riesige Löcher. Als Zado sicher war, daß kein Lebewesen die Mühle bewohnte, schob er den Oberkörper durch ein Loch in der Mauer und winkte Timm. Der Unteroffizier erhob sich mühsam und kam auf die Mühle zu. Er ging gebückt, eine gebrochene Gestalt, deren Augen allein noch daran erinnerten, daß Leben und Bewußtsein in ihr waren.
»Hau dich hin«, sagte Zado zu ihm, als er sich durch die Lücke im Mauerwerk zwängte, »hau dich irgendwo hin und schlafe. Du siehst aus, als ob du schon gestorben wärst.«
Timm schüttelte den Kopf. Aber in seiner Gebärde war nicht mehr die alte Kraft. Aus seinen Augen glänzte das Fieber, und seine Bewegungen waren ohne Energie.
»Timm ist noch nicht tot«, sagte er, ohne die Zähne zu öffnen. »Mitternacht sind wir zu Hause. Dann werden sie mich schon wieder zurechtflicken.«
Zado warf die Maschinenpistole über die Schulter und wandte sich ab. Er sagte: »Ich krieche aufs Dach. Muß mir die Gegend genau ansehen, solange es noch hell ist. Hau dich solange hin, wir haben ein paar Stunden Zeit.«
Er ging, ohne sich weiter um den Unteroffizier zu kümmern. Er kletterte über die zertrümmerten Reste einer Stiege und gelangte in das obere Stockwerk. Ein kalter Zug kam durch die Lücken im Mauerwerk, die von den Granaten gerissen worden waren. Zado stieg weiter, eine schmale Leiter hinauf, die mit Kabeldraht geflickt war. In einer Ecke lag eine Rolle angekohltes Telefonkabel. Es war kein Stäubchen Mehl irgendwo zu entdecken, aber es roch noch immer nach dumpfigem Mehl. Es roch nach Staub und angekohltem Holz.
Als sich Zado durch die Luke auf das Dach zwängte, sah er im Südwesten das Dorf liegen. Er stemmte sich mit den Ellenbogen in die Luke und zog die Beine nach. Als er sicher saß, zog er die Karte hervor und rechnete.
Das war Haselgarten. Er erkannte es, obwohl er es zuvor nie aus dieser Perspektive gesehen hatte. Er war nie in dieser Mühle gewesen. Aber er erkannte das Dorf auf den ersten Blick, obwohl es sein Aussehen geändert hatte. Die Straße war mit Fahrzeugen vollgestopft, und von den Häusern stand nach dem letzten Artilleriefeuer nicht mehr viel. Es herrschte um das Dorf herum eine emsige Betriebsamkeit, die Zado beunruhigte. Über die Feldwege preschten Kolonnen mit kleinen, wendigen Gefechtsfahrzeugen. Im Schutz von Buschwerk lagerten Artillerieabteilungen. Panzer standen bewegungslos am Straßenrand, vollgepackt mit Gepäck und Munition, die die Mannschaften mit Stricken auf den Panzerplatten festgebunden hatten. Zado hatte nur eine vage Vorstellung davon, wo sich gegenwärtig die Front befand. Er rechnete aus, wie weit sie noch zu laufen hatten. Es mochten einige Kilometer sein. Doch hier spürte man noch nichts von dieser Front. Vorn war eine unheimliche Ruhe eingezogen, hinter der dieses Leben pulsierte, das sich seinen Augen in Haselgarten bot. Er hatte ein unbehagliches Gefühl dabei, denn er wußte, daß diese Ruhe trügerisch war. Er wußte, daß sie beide die Front erreichen mußten, ehe diese Ruhe ihr Ende hatte, weil sich im gleichen Augenblick das Ziel ihres Marsches unweigerlich um viele Kilometer weiter nach Westen verschieben würde. Vielleicht so weit, daß sie nicht mehr imstande waren, es noch zu erreichen. Einen Augenblick lang fragte er sich: Warum machst du überhaupt diesen Weg? Warum bringst du es nicht übers Herz, Schluß zu machen? Du siehst, wie es endet, aber du läufst zurück. Dorthin, wo das Ende dich mit großer Wahrscheinlichkeit zerschmettern wird. Wozu das? Doch er konnte sich auch jetzt keine genaue Antwort darauf geben. Er wußte selbst nicht, ob er nur Angst hatte, so wie er war, in dieser Uniform, mit erhobenen Händen auf den nächsten Soldaten zuzugehen und zu sagen: »Ich mache Schluß!«, oder ob es daran lag, daß er mit einem Fünkchen Hoffnung noch darauf baute, daß das, was sich hier ankündigte, doch noch nicht das Ende sei und daß es ein anderes Ende geben würde. Eins von der Art, wie es die Frontzeitungen prophezeiten.