Er starrte unschlüssig auf die Karte in seiner Hand und dann wieder hinüber zur Straße, zum Dorf. Weitab von den anderen Häusern lag das Gehöft, in dem Anna gewohnt hatte. Er erinnerte sich an sie, ohne sich danach zu fragen, was aus ihr geworden sei. Er beobachtete die Gegend um das Gehöft eine geraume Zeit und konnte dort niemanden entdecken. Es war ruhig um das Gehöft.
Überhaupt schien es in dieser Richtung eine Lücke zu geben. Zado rechnete wieder. Wenn sie den Weg über das Gehöft oder an dem Gehöft vorbei nahmen, konnten sie, am Rande einer großen Viehkoppel vorbei, immer seitlich des Waldes bis dahin gelangen, wo er die Front vermutete. Die Entfernung war ein wenig größer, aber der Weg schien Zado sicherer zu sein.
Er dachte darüber nach, ob Timm es schaffen würde, als weit hinten im Westen ein vereinzeltes Grollen aufstieg, dumpf und langsam verebbend, mit dem harten Schlußton der einschlagenden Granate.
Zuerst blickte Zado nicht auf. Aber das Grollen kam wieder. Es riß nicht mehr ab, und nach Minuten war es in ein dumpfes Gemurmel übergegangen, in dem Abschüsse und Einschläge verschmolzen.
Zado ließ die Karte sinken. Seine Augenlider zogen sich zu einem schmalen Schlitz zusammen. Sein Gesicht bekam wieder den alten raubvogelhaften Zug, der durch die in den letzten beiden Tagen eingefallenen Backen verstärkt wurde. Er horchte angestrengt und beobachtete, wie alles, was im Dorf und um das Dorf herum war, in Bewegung geriet. Auf der Straße wimmelte es von Soldaten, die die Fahrzeuge erkletterten, die Panzer ruckten an, Knäuel von Qualm aus den Auspuffrohren hinter sich lassend. Gespanne und Schlitten fuhren an, alle nach einem offenbar vorher genau festgelegten System. Und alle rollten auf der Landstraße, auf den Seitenwegen oder direkt über die verschneiten Felder westwärts, als hätte man einzig noch auf den Beginn des Artilleriefeuers gewartet.
Zado hörte ein Scharren unter sich. Timm stand an der Leiter und sah zu ihm hinauf. Er fragte mit den Augen, was draußen geschähe. Er hielt eine Panzerfaust in der Hand. Zado konnte sich nicht erklären, wo er sie gefunden hatte.
»Ein bißchen Feuer«, sagte Zado, »irgendwas ist los, aber ich weiß nicht was.«
»Unsere greifen an…«, sagte Timm heiser. Er hatte fiebrige, blutunterlaufene Augen. »Ich hab’s gewußt, daß unsere eines Tages angreifen. Sie kommen! Paß auf, was jetzt passiert!«
»Wo hast du die Panzerfaust her?« wollte Zado wissen. Der Unteroffizier strich leicht über das gelbgespritzte Rohr. Dann sagte er: »Sie ist scharf. Bloß das Visier hochklappen und aufs Knöpfchen drücken. Das kostet einen Panzer das Leben.«
»Und dir!« brummte Zado. »Wo hast du sie her?«
»Sie lag hinter der Mühle. Ich bin um die Mühle herumgegangen und habe sie im Schnee gefunden. Ich habe den Schnee abgewischt. Sie ist scharf…«
»Da vorn liegt Haselgarten«, sagte Zado, »ein paar Kilometer dahinter muß die Front sein. Dort, wo jetzt das Artilleriefeuer ist. Wirst du es bis dorthin schaffen?«
In Timms Augen leuchtete es auf. Er schob das Kinn vor, und dann sagte er leise: »Ich schaffe es. Seit ich die Geschütze höre, bin ich wieder ein Mensch. Unsere greifen an, ich habe es gewußt! Sie kommen uns entgegen, wir werden nur den halben Weg zu machen brauchen…«
Es dämmerte. Die Konturen der Bäume auf den Viehkoppeln verschwammen im Zwielicht. In der Ferne, dort, wo die Fahrzeuge verschwanden, die aus dem Dorf aufbrachen, stieg der blaugraue Dunst dieser Winterabende auf.
»Du machst mir Spaß«, sagte Zado, die Landkarte einsteckend, »weißt du überhaupt, wer da schießt? Weißt du, wer angreift? Wenn du gesehen hättest, was hier in der Gegend herumsteht, würdest du ganz still sein.«
»Sie kommen! Bloß du willst nicht, daß sie kommen! Ich glaube, du überlegst die ganze Zeit, wie du am bequemsten in Gefangenschaft gehen kannst«, sagte Timm lauernd. »Mach dir keine Illusionen, sie legen dich um, du hast ihre Uniform an. Damit kann man dir garantieren, daß sie dich umlegen. Du hast keine Chance, aber unsere Leute kommen jetzt. In einer Stunde werden sie vielleicht schon dasein…«
Zado musterte ihn wortlos ein paar Sekunden. Dann setzte er kurz entschlossen den Fuß auf die Leiter und forderte Timm auf: »Red keinen Unsinn zusammen. Leg dich in die Ecke und schlaf dich aus. Wenn es finster ist, marschieren wir. Ich verspreche dir feierlich, daß ich dich im nächsten Wald liegenlasse, wenn du nicht weiterkannst. Sie werden uns nicht entgegenkommen, wir müssen nach Westen gehen. Und nun nimm die Panzerfaust beiseite, ich habe keine Lust, mit dem Ding hochzugehen, wenn du aus Versehen auf den Knopf drückst!«
Das Feuer wurde stärker. Noch immer war nicht zu unterscheiden, ob es die Batterien der Roten Armee waren, die da feuerten, oder ob der Beschuß von der deutschen Seite kam. Aber nachdem die beiden Männer eine halbe Stunde wartend hinter den Mauern der Mühle gehockt hatten, hörten sie, wie das Feuer plötzlich anschwoll und zum Orkan wurde.
Timm horchte auf. Sein Gesicht bekam einen gespannten, erwartungsvollen Ausdruck. Er erhob sich, obwohl es ihn große Anstrengung kostete, und trat vor die Mühle. Es war dunkel geworden. Im Westen war der hin und her flackernde Widerschein der Granateinschläge am Horizont. Die Luft war erfüllt von dem dumpfen Gedröhn, und Timm glaubte auch Gewehrfeuer zu hören. Er strengte sein Gehör an und stand lange mit vorgestrecktem Kopf an der Mauer der Mühle. Dann löste sich aus dem Getrommel in der Ferne langsam ein tiefer, brummender Ton, der heller und immer heller wurde. Vom Westen her kamen ein paar Flugzeuge. Timm konnte sie am wolkenverhangenen Himmel nicht erkennen, aber er hörte ihre Motoren immer lauter werden. Die Maschinen zogen eine Kurve. Dann heulten ihre Motoren plötzlich auf, und sie schossen herab, in geringer Höhe über das ebene Land rasend. Das Motorengeheul schreckte Zado auf. Er sprang aus dem Dunkel der geborstenen Mauern zu Timm hinaus und suchte am Himmel die Maschinen.
»Eine Staffel Me’s…«, flüsterte Timm erregt, »es geht los! Jetzt geht’s ihnen schlecht!«
Plötzlich waren die Maschinen dicht über ihnen. Sie flogen unter der Wolkendecke, und die beiden konnten sie nun erkennen. Es waren vier Maschinen, deren Silhouetten einander ähnelten. Aber die eine versuchte, sich von den anderen drei Maschinen zu lösen. Es gelang ihr nicht, denn die drei anderen jagten hinter ihr her, und aus ihren Tragflächen züngelten die Flämmchen der Bordwaffen.
»Da…«, sagte Timm. »Jetzt…«
Die gejagte Maschine zog steil aufwärts. Es war der letzte Versuch, zu entkommen. Einer der Verfolger ließ seine Maschine aufbäumen und zog mit hämmernden Maschinengewehren hinter der entschwindenden Maschine her in die Wolken. Von dort kam Sekunden später ein Aufflammen, und dann raste der Rumpf der ersten Maschine brennend in die Tiefe. Die Tragflächen flatterten wie schaukelnde, welke Blätter hinterher.
»Aus!« rief Timm. Aber in diesem Augenblick zog die Kette der drei Maschinen, die sich wieder vereinigt hatten, heran und preschte mit jaulenden Motoren dicht über die Mühle hinweg. Die Unterseite ihrer Tragflächen war hell gestrichen. Zado sah dort die großen, roten fünfzackigen Sterne. Er blickte zu Timm und sagte: »Aus ist der Traum von deinen Messerschmitts. Die eine Messerschmitt, die sich blicken ließ, liegt hinten im Wald.«