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Zado hatte Bindig plötzlich seitwärts zwischen das Geäst gezogen, einen Finger dabei auf den Mund legend; er hatte ein feines Gehör, und die tappenden Laute von Timms Gummisohlen waren ihm nicht entgangen. Sie sahen ihn den Pfad entlanghetzen und wußten, daß etwas geschehen war. Als sie ihn angehalten hatten, zogen sie ihn zu sich in den Schutz der Büsche, und Timm keuchte flüsternd: »Fort! Sie haben da vorne…«

»Ruhig…«, flüsterte Zado, »ganz ruhig, Klaus. Haben sie dich gesehen?«

»Nein«, gab Timm zurück, »aber wir kommen nicht vorbei. Die anderen auch nicht. Sie haben eine Batterie Sturmgeschütze mitten im Wald stehen, und sie werden…«

Die Geschoßsalve einer Maschinenpistole zersägte seinen Satz. Sie war ganz plötzlich da, weit entfernt, aber doch nicht so weit, daß sie bedeutungslos gewesen wäre. Es war das trockene, bellende Geknatter einer russischen Waffe, ein langer Feuerstoß und nach einer sekundenlangen Pause ein weiterer, kürzerer, dem vorerst Stille folgte.

Die drei hockten im Gebüsch neben dem Pfad. Zado hatte Timm, noch während die Maschinenpistole bellte, tiefer zwischen das Astwerk gezerrt. Sie lauschten ein paar Sekunden. Es geschah nichts. Die Nacht war wieder still. Aber die Stille war trügerisch, jeder der drei wußte es. Der Posten, oder einer der Posten, war gewarnt; irgendeiner der anderen Männer war ihm in die Hände gelaufen. Bindig knöpfte die Tasche der Kombination auf und nahm die beiden Handgranaten heraus. Er prüfte die Zünder oberflächlich und befestigte die beiden eiförmigen, geriffelten Stahlkörper dann an einer Schlaufe des Koppels. Er ließ den bereits aufgeknöpften russischen Mantel von der Schulter gleiten und nahm die Pelzmütze vom Helm. Er tat es nicht sonderlich schnell, gerade so, wie man etwas tut, was ebenso unbequem wie notwendig ist. Er zog den Lederriemen des Helmes fest und überzeugte sich, daß die erste Patrone des Magazins in der Kammer der Maschinenpistole lag. Zuletzt nahm er die Pistole und entfernte das Magazin. Er hatte in dem Bahnwärterhäuschen vier Schüsse abgegeben. Die Patronen fehlten in dem Magazin. Er griff in die Tasche und nahm vier Patronen, die er lose eingesteckt hatte. Er füllte das Magazin auf und schob es dann in die Pistole zurück; dann lud er die Waffe ebenfalls durch und sicherte sie nicht mehr.

Als er damit fertig war, sagte er leise zu den beiden anderen : »Wollen wir hier liegenbleiben?«

Aber er bekam keine Antwort, denn im gleichen Augenblick explodierte dort, wo vorher die Maschinenpistole gebellt hatte, eine Handgranate, und ein paar harte russische Stimmen riefen sich unverständliche Worte zu. Eine Trillerpfeife ertönte dazwischen, und dann fielen ein paar einzelne Schüsse.

Es war, als erwache Timm aus einer Erstarrung, als die Trillerpfeife ertönte. Er hörte sie und hatte im gleichen Augenblick das Bild vor sich, das sich dort bot. Ein Zugführer, der seine Leute ansetzt, den Wald zu durchkämmen. Timm erhob sich automatisch. Er spürte mit einem Mal, daß er wieder der alte war. Er legte sich die Maschinenpistole zurecht und zwängte seinen Oberkörper durch die Zweige. Auf dem Pfad war nichts zu sehen. Er winkte den beiden und trat hinaus. Sie folgten ihm. Sie hasteten hinter Timm den Weg zurück, den sie gekommen waren. Wieder fielen hinter ihnen Schüsse. Aber sie galten nicht ihnen. Sie waren weit entfernt von dem Platz, an dem geschossen wurde. Es waren einzelne Gewehrschüsse, hallend und scharf, dazwischen Feuerstöße aus Maschinenpistolen. Timm hielt im Laufen inne und lauschte zurück. Dann sagte er leise: »Das war eine Beretta.«

Er sagte es so, als habe er bis zu diesem Augenblick noch daran geglaubt, daß die Schießerei zufällig oder versehentlich entstanden sei und seine Soldaten unentdeckt geblieben wären. Es klang wie eine traurige Feststellung.

»Sie müssen weiter rechts von mir gegangen sein«, sagte er. »Ich habe es mir gedacht. Die Sturmgeschütze stehen hintereinander. In der Dunkelheit sind sie nur durch einen Zufall zu entdecken.«

Die Beretta schoß noch immer. Sie gab kurze, sparsame Feuerstöße ab. Die anderen Waffen bellten bösartig, in lang-gezogenen, einander übertönenden Salven. Timm sagte nichts, aber er wußte, daß dort nur einer der Männer lag und sich verteidigte. Entweder waren die anderen tot, oder sie hatten diesen einen aufgegeben. Es war schwer zu entscheiden, ob sie damit richtig gehandelt hatten.

»Was willst du?« erkundigte sich Zado. Timm deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und sagte schnelclass="underline" »Zurück bis an den Waldrand, und dann immer am Waldrand entlang nach Osten, bis wir aus diesem Tohuwabohu heraus sind.«

Zado nickte. Sie hasteten weiter, und das Geknatter der Schüsse hinter ihnen wurde von Minute zu Minute schwächer. Dann hörte die Beretta auf zu schießen.

»Aus!« sagte Zado heiser. »Er hat ziemlich lange ausgehalten.« Aber in diesem Augenblick begann viel weiter links ebenfalls eine Beretta zu schießen, und in ihre Feuerstöße mischten sich die dumpf klingenden Explosionen von Handgranaten.

Timm verzog das Gesicht. Er sah aus, als habe er Schmerzen. Aber die anderen sahen es nicht. Timm überlegte, ob von den Männern noch einer übrigbleiben würde. Es ist die beste Gruppe aus dem ganzen Haufen, dachte er. Die jungen Kerle sind die Besten. Und sie knallen sie mir einen nach dem anderen ab.

Sie hatten den Waldrand schnell erreicht. An der Brücke rührte sich nichts. Aber in der Luft lag eine feine Spur von Rauch. Timm begriff, daß der Kessel der Lokomotive explodiert war.

Sie bewegten sich im Rücken des Waldes nach Osten und machten einen großen Bogen, der sie weit von der Stelle wegführte, an der die Sturmgeschütze standen, aber auch weit von den Seen weg, zwischen denen die Maschine sie abholen sollte. Timm hatte sich die Karte genau eingeprägt. Er ließ Zado und Bindig ihre Kartenblätter ebenfalls vernichten, und sie marschierten weiter, sich nach den Sternen orientierend. Sie betraten unbekanntes Gebiet, das weder auf dem Kartenblatt noch in dem Sandkasten zu sehen gewesen war, den sie beim Stab für diesen Einsatz aufgebaut hatten. Nach einer Stunde hörten sie keine Schüsse und keine Handgranaten mehr. Sie kamen in die Nähe der Straße, die sie kreuzen mußten, und auf der Straße fuhren Autos mit angehängten Geschützen. Es waren kurze Kolonnen, dazwischen flitzten kleine, wendige Stabsfahrzeuge. Nach einer halben Stunde gelang es ihnen, die Straße zu überqueren. Der Wald auf der anderen Seite verschluckte sie, und sie marschierten viele Kilometer in diesem Wald weiter nach Osten, bevor sie wieder nordwärts abbogen.

Vor ihnen lag buschiges, unübersichtliches Gelände, flach und langweilig. Timm hatte am Handgelenk einen winzigen Kompaß baumeln. Er führte die beiden anderen sicher. Er war gewiß, der Gefahr entronnen zu sein. Sie hatten eine weite Strecke zwischen sich und den Platz der Schießerei gelegt. Hier war das Gebiet, das hinter jeder Front immer am wenigsten beaufsichtigt war. Das Gebiet zwischen den Stellungen und den Etappenorten. Die leichte Artillerie stand weiter vorn, die schwere war viele Kilometer östlich stationiert. In diesem Gebiet spielte sich das Leben nur auf den Straßen und Wegen ab. Die Wälder waren still.

Als der Morgen graute, hatten die drei den großen Bogen beinahe vollendet. Sie waren müde und hungrig. Ihre Schritte waren schlapp, und Timm wußte, daß ihre Aufmerksamkeit nachgelassen hatte. So, wie sie jetzt waren, würden sie am hellen Tage in eine russische Kolonne hineinlaufen. Er beeilte sich, vorwärts zu kommen, und trieb sie an, bis er die Wasserfläche des Sees in der Morgendämmerung erkennen konnte. Da ließ er sie zurück und begann den Landeplatz zu suchen. Er fand ihn und überzeugte sich davon, daß er brauchbar war. Er mußte alle Kräfte zusammennehmen, als er auf einen einzeln stehenden Baum kletterte, um die Gegend zu überblicken. Er konnte weit ins Land sehen, aber solange er auch Ausblick hielt, er bemerkte nichts, was sich bewegte, nichts, was seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Auf dem Rückweg fand er eine Mulde im Boden, die mit Gestrüpp überwuchert war. Er stieg hinein und stellte fest, daß sie drei Leuten Platz bieten würde. Da holte er die beiden anderen nach, führte sie zu der Mulde und sagte: »Legt euch hin und schlaft. Ich wecke euch, wenn ich müde bin.«