»Ich habe noch nie eine Einladung ausgeschlagen«, sagte Timm. Er band den Schlips auf und brannte eine Zigarette an. Er sah gut aus in der nach Maß geschneiderten Uniform. Er hatte auch hier, in dem Sessel, noch etwas von der Elastizität, mit der er über die Steine Kretas gesprungen war, von der Gewandtheit, mit der er sich aus der Maschine schwang. Das Hemd spannte über der Brust. Er war sehr glatt rasiert heute.
»Dann werde ich nämlich jetzt die Haustür abschließen gehen«, sagte die Frau. Sie erhob sich aus der knienden Stellung vor dem Radio. »Ich bin diese Woche dafür verantwortlich.«
Sie ging. Aber sie kam noch einmal zurück und gab Timm einen Bademantel. »Mach es dir bequem. Diese Uniformen sind eine scheußliche Erfindung.«
»Ist er von deinem Mann?« fragte Timm.
Sie ging aus dem Zimmer. An der Tür sagte sie: »Wenn du dich ein bißchen frisch machen willst — im Bad ist eine Brause.«
Zu Hause lag er an den Vormittagen im Bett und schlief einen schweren, traumlosen Schlaf. Manchmal hockte sich seine Frau neben ihn auf die Bettkante und sah ihn mit einem traurigen, nachdenklichen Blick an. Sie ging stets fort, wenn er erwachte. Sie bereitete Essen für ihn und brachte seine Wäsche in Ordnung. Sie war eine schmale, reizlose Frau. Einmal war sie ansehnlich gewesen, aber das lag lange zurück. Sie schlich um Timm herum und sah ihm selten in die Augen. Es war ihm unbehaglich, längere Zeit mit ihr allein zu sein, und er brachte oft tagsüber Freunde mit. Dann spielten sie Skat oder tranken. Aber gegen Abend kleidete sich Timm sorgfältig und ging aus.
»Klaus«, sagte die Frau eines Abends, als er wieder fortging, »die Leute reden schon. Es ist mir ja egal, aber vielleicht solltest du lieber…«
»Jesus Maria…«, sagte Timm. »Wozu habe ich dich bloß geheiratet? Dafür, daß du mir erzählst, was die Leute reden, oder wofür sonst?«
»Ich dachte nur…«, wandte die Frau schüchtern ein. Sie war geduckt, zaghaft. Sie war das kraftlose Überbleibsel einer Frau, die zehn Jahre mit Klaus Timm verheiratet war.
»Laß die Pferde denken«, sagte Timm gleichmütig, »du weißt, daß sie größere Köpfe haben als du…«
Als es bekannt wurde, daß die Truppe nach der Ostfront verlegt werden sollte, sagte Timm nachdenklich: »Das gefällt mir nicht. Ich kann nicht behaupten, daß mir das Freude macht. Das hätte ich mir gerne erspart.«
Zado war der letzte von denen, die damals die Siege der Kompanie miterlebt hatten. Er kannte noch die Forts von Eben Emael und die französischen Mädchen. Er wußte um die Abenteuer in Holland und erinnerte sich an die aufgekrempelten Ärmel in Kreta. Es war vorbei. Hier war der Osten.
Sie lagen an der Straße, ein paar Kilometer hinter der Front der Roten Armee. Im Westen grummelte die Artillerie. Der Frost biß in Timms Wunde. Zado lag neben ihm, ausgepumpt und erschöpft wie er. Das ist unsere letzte Station, dachte Timm. Hier haben sie uns fertiggemacht. Nirgends sonst haben sie uns so fertiggemacht wie hier. Mit Sonnenblumenkernen im Magen und Machorka in den Manteltaschen haben sie uns fertiggemacht und mit Stalinorgeln und T 34 und Granatwerfern und mit allem, was die anderen auch hatten. Die anderen haben es nicht geschafft, aber sie sind dabei, es zu schaffen. Irgendetwas ist vorgegangen. Irgendetwas hat sich verändert. Nicht bei uns. Wir sind immer so gewesen. Die Gegner sind anders geworden. Und wir haben keine aufgekrempelten Ärmel mehr wie in Kreta. Wir haben Löcher im Fell und Zähneklappern.
Er fluchte leise vor sich hin. Zado reagierte nicht darauf. Vor ihnen lag die Straße und dahinter, in einiget Entfernung, das Gehöft Annas. Die Straße war leer. Es war kein Fahrzeug zu sehen. Nur eine Gestalt kam aus dem Dorf und ging mit schnellen Schritten hinüber auf das Gehöft zu. Es war ein Russe, Timm erkannte ihn an der Uniform und an der Pelzmütze. Er trug kein Gewehr. Ein Offizier, dachte Timm. Das Gehöft dort drüben scheint sein Quartier zu sein. Es ist zu still für einen Stab. Er sah der Gestalt nach, die sich undeutlich von dem matt beleuchteten Schnee abhob. Diese einzelne Gestalt, die quer über die verschneiten Felder auf das Gehöft zuging, flößte ihm wieder den Gedanken ein, daß diese Armee und ihre Front so stabil waren, wie die deutsche Armee vielleicht niemals gewesen war.
Er überlegte, wie sie diese Front überschreiten könnten, aber die Zuversicht, die er noch vor Stunden gehabt hatte, war nicht mehr da. Er fühlte, daß es ihm schwerfallen würde, sich zu erheben. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er überlegte, daß er es vielleicht nicht mehr schaffen könnte. Als der Soldat in dem Gehöft verschwunden war, erhob sich Timm mühsam und sagte zu Zado: »Los, komm! Entweder schaffen wir es jetzt, oder…«
»Oder wir schaffen es nicht«, gab Zado zurück. Ihm war alles gleichgültig, was nun noch geschehen konnte.
Timm schleppte sich vorwärts. Manchmal torkelte er und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Nach einigen hundert Schritten wußte er, daß er es nicht mehr bis zur Front schaffen würde. Er nahm diese Erkenntnis mit einem gewissen Gleichmut hin, aber zugleich saugten sich seine Augen an dem Gehöft fest, in dem der Offizier verschwunden war. Bis zu diesem Gehöft wird Klaus Timm noch marschieren, dachte er. Bis zu diesem Gehöft. Und dort wird er den Krieg beenden. Sie werden in diesem Dorf merken, daß Klaus Timm hier den Krieg beendet hat. Die letzten hundert Meter stolperte er mehrmals, und einmal fiel er mit dem Gesicht in den Schnee. Zado keuchte neben ihm. »Ich kann dich nicht schleppen«, sagte er, »ich bin fertig.«
»Mich braucht keiner zu schleppen«, antwortete Timm, »mich hat noch nie einer geschleppt.« Er torkelte weiter, aber er gab die Panzerfaust nicht aus der Hand. Als er nach dem Gehöft einbog, sagte Zado: »Was willst du um Himmels willen dort drüben? Da ist der Russe drin…«
»Genau den will ich«, knurrte Timm. »Wo ich bin, wird gestorben. Das war schon immer so…«
Er schleppte sich durch das Tor, an dem der erschöpfte Zado stehenblieb, sich an den Pfosten lehnend, überlegend, was er jetzt tun sollte. Timm klappte das Visier der Panzerfaust hoch. Er hatte sich davon überzeugt, daß sie scharf war. Er brachte es fertig, lautlos bis an das Fenster zu gelangen, aus dem ein schmaler Lichtschein nach draußen drang. Vor dem Fenster stand ein umgekippter Futtertrog. Timm stieg hinauf und sah durch den Spalt im Vorhang in die Küche. Er sah den Rücken des Russen vor sich, der am Tisch saß, den Kopf in die Hände gestützt. Eine Sekunde lang sah Timm ihn so sitzen. Dann stieß er mit einer schnellen Bewegung, die seine Schulter schmerzen ließ, die Panzerfaust durch die zusammengeflickte Scheibe. Sie fuhr zwischen die beiden Kanten des Vorhanges. Timm drückte auf den Knopf und ließ sich fallen. Er schrie auf, denn er fiel auf die zerschmetterte Schulter. Über ihm schoß ein greller Lichtschein aus dem berstenden Fenster. Die Welle der Detonation fegte Splitter und Fetzen über Timm hinweg. Dann war es still. Zado stand gehetzt am Tor. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf. Dahinten war das Dorf. Aber es war fraglich, ob sie dort die Explosion gehört hatten. Die Artillerie schoß, und auf diese Entfernung würde kaum einer darauf kommen, daß diese Explosion nicht von der Artillerie herrührte. Die Straße war still. In der Ferne rumorten Motoren, aber sie schienen nicht näher zu kommen. Fort! hämmerte es in Zados Kopf. Er lief am Zaun entlang, geduckt, keuchend. Nach ein paar Schritten sah er die Gestalt, die von der anderen Seite heranhetzte und in den Hof sprang. Er sah sie auf das Häufchen Mensch zulaufen, das unter dem Fenster lag, aus dem ein Fähnchen Rauch stieg, und er hörte die Stimme, als die Gestalt sich über dieses Häufchen beugte. Die Stimme rief nur ein Wort Sie rief: »Timm!«
Dann sprang die Gestalt durch die Tür ins Haus. Zado erhob sich langsam und ging zurück in den Hof. Er blieb stehen und wartete, bis die Gestalt langsam aus der Haustür trat. Dann sagte er: »Kleiner…«, und noch einmal, leiser: »Kleiner…« Er stolperte auf Bindig zu.