Flamme
Die Höhe war kahl. Es gab keinen Baum, nur ein paar kniehohe Büsche. Der Schnee war seit Tagen verharscht. Nun war er schmutzig. Die Granaten hatten ihn umgepflügt. Die Erde war hoch geflogen, und aus den kleinen braunen Flecken war schließlich das neue Muster des Bodens entstanden: Dreck mit weißen Tupfen.
Einmal, noch vor Stunden, war hier die Front der Roten Armee verlaufen. In den Löchern am westlichen Fuße des Hügels hatten die Rotarmisten gelegen, als das Feuer begann. Aber dann waren die Panzer gekommen, und man hatte die Männer aus den Löchern bis auf den Kamm des Hügels zurückgezogen. Dort oben lagen sie jetzt, an den östlichen Abhang geschmiegt, und warteten das Feuer ab. Hier konnte es ihnen nichts anhaben. Die Granaten mußten über den Hügel hinweg, wenn sie ihnen gefährlich werden sollten. Fauchten sie aber über die Kuppe, dann schlugen sie erst weit unten ein, weil der Boden steil abfiel, und die Splitter erreichten die Soldaten nicht mehr. Meist fuhren die Geschosse jedoch in die Vorderseite des Hügels, und auch dann blieben ihre Splitter unschädlich. Gegenüber dem Hügel, an einem unübersichtlichen Waldrand, standen die beiden Panzer und das Sturmgeschütz der Deutschen. Von dort schossen sie, aber sie waren schwer zu treffen, denn sie wechselten nach jedem Schuß die Stellung.
Die Soldaten hinter dem Hügel schossen selten zurück. Sie hatten ein paar Panzerbüchsen aufgestellt. Sie wußten, daß die Panzer ihnen nichts anhaben konnten. Kamen sie aus dem Wald heraus, dann würde man sie bis dicht an den Hügel herankommen lassen und abschießen. Blieben sie im Wald, dann blieb auch die Front so, wie sie war. Die Soldaten hatten sich an das Feuer gewöhnt. Sie duckten sich nicht mehr, denn sie wußten, daß sie sich in einer ausgezeichneten natürlichen Deckung befanden. Manche rauchten Zigaretten. Einer mit dem Sprechfunkgerät hockte bei ihnen. Er war von ein paar anderen umringt, aber er konnte ihnen nichts weiter sagen, als daß die Front so war wie vorher. Es war keine Gefahr mehr. Wenn von drüben aus dem Wald Infanterie kam, dann würden sie auf die Kuppe des Hügels ein paar Maschinengewehre stellen. Weiter als bis an den Fuß des Hügels würde die Infanterie nicht kommen. Außerdem hatten die Panzer nur eine gewisse Menge Munition bei sich, das wußten die Soldaten. Sie kauten Sonnenblumenkerne.
Dann schwiegen die Panzer plötzlich. Lange Zeit fiel kein Schuß am Waldrand. Die Soldaten warteten länger als eine Viertelstunde. Dann stiegen sie auf die Kuppe des Hügels und brachten ein Maschinengewehr in Stellung. Sie hoben sich dabei gegen den Nachthimmel ab, denn auf der Hügelkuppe gab es kein Gebüsch. Als sie die Trommel auf das Maschinengewehr setzten, blitzte es am Waldrand auf. Die Granate rauschte knapp über die Köpfe der Männer hinweg und schlug weit hinten ein. Sie zogen das Maschinengewehr wieder zurück. Nach einer weiteren Viertelstunde wiederholten sie es noch einmal. Es kam wieder ein einzelner Schuß, der über ihre Köpfe fegte, und sie versuchten es nun nicht zum drittenmal, auf der Kuppe in Stellung zu gehen.
Es würde Tag werden. Dann würde man die Panzer sehen. Dann würde man ein paar Granatwerfer holen und sie zusammenschießen. Das war vor einer Stunde gewesen. Und nun lagen unten, am westlichen Fuße des Hügels, Bindig und Zadorowski.
Sie hatten sich durch die Artilleriestellungen, vorbei an abgestellten Fahrzeugen und bereitgestellter Infanterie, bis hierher geschlichen. Es war nicht schwer gewesen, denn es waren viele Melder unterwegs. Verletzte humpelten zurück, und Fernsprechleute suchten die Leitungen nach Störquellen ab. Die beiden waren nicht von den Soldaten zu unterscheiden, denn sie trugen noch immer die braunen Uniformen. Irgendwo hatte Zado eine neue Pelzmütze aufgelesen, die einer der Rotarmisten verloren haben mußte. Er trug jetzt Timms Maschinenpistole. Sie waren bis hierher an den Fuß des Hügels gekommen. Nun hockten sie nebeneinander in einem alten Schützenloch, das eine Granate getroffen und aufgewühlt hatte. Als sie den Hügel umgingen, hatte das Feuer geschwiegen. Sie hatten nicht gewußt, daß drüben am Waldrand die Panzer standen. Aber als sie an dem Loch vorbei wollten, in dem sie jetzt hockten, hatten die Rotarmisten oben auf der Hügelkuppe zum zweiten Male versucht, das Maschinengewehr aufzustellen. In diesem Augenblick war vom Wald her der Schuß gekommen, und die beiden hatten in dem Loch Schutz gesucht.
Sie hatten keine Ruhe, sie wollten weiter. Zado drängte dazu. Als sie ein paar Minuten gewartet hatten, erhoben sie sich und arbeiteten sich langsam vorwärts. Sie waren ein paar Schritte von dem Loch entfernt, als es am Waldrand aufblitzte. Die Granate fauchte über ihre Köpfe und schlug wenig hinter ihnen am Abhang des Hügels ein. Der Druck der Explosion schleuderte sie ein paar Meter vorwärts. Im Jaulen der Splitter hörte Bindig, wie Zado einen Fluch ausstieß. Er packte ihn und zog ihn zurück. Als sie sich wieder in das Loch schwangen, blitzte es am Waldrand erneut auf. Die Granate galt ihnen, aber sie schlug diesmal weiter links ein, und die Splitter zischten über das Loch hinweg. Bindig spürte die warme Feuchtigkeit, als er Zados Mantel anfaßte. In dem Ungewissen Licht sah er, daß auf der Hand dunkle Flecke waren.
»Aus!« hörte er Zado leise sagen. »Auf dem Hügel die Russen und am Wald unsere. Einer von beiden wird uns den Rest geben.« Es klang heiser, gepreßt.
Bindig riß ihm den Mantel auf und suchte die Wunde. Sie lag dicht unter dem Brustkorb. Sie war nur klein, aber der Splitter steckte im Leib.
»Er hat mir die Därme zerrissen, glaube ich«, sagte Zado, »es wird eine Weile dauern, ich habe lange nichts gegessen.«
Bindig öffnete die Jacke und trennte mit dem Messer ein Stück von dem verschwitzten Unterhemd ab. Keiner von beiden besaß mehr ein Verbandpäckchen. Als er Zado den Fetzen auf die Wunde gedrückt hatte, griff er in dessen Uhrtasche und zog die Kapsel mit den Schmerztabletten heraus. Er ließ ihm den Inhalt einfach in den Mund fallen. Vom Rand des Loches nahm er eine Handvoll Schnee und gab sie Zado. Der Schnee war schmutzig, aber Zado schluckte ihn.
»Schmerzen?« fragte Bindig.
»Es geht«, antwortete Zado. Er war sehr ruhig. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand des Loches, die Beine weit ausgestreckt. »Es wird noch schlimmer werden«, sagte er. »Wenn du willst, kannst du abhauen. Du kommst vielleicht noch durch.«
Seitlich von ihnen nahm das Feuer wieder zu. Aber das waren nicht mehr die deutschen Geschütze. Aus den Artilleriestellungen, an denen sie vorbeigeschlichen waren, schoß es auf die Infanterie, die in der Nähe des Waldrandes steckengeblieben war. In den hellen, blubbernden Ton der Granatwerfer mischte sich das Jaulen der Raketengeschosse, die wie Kometen, sprühende Schweife hinter sich ziehend, herangerast kamen. Die Feuerschläge erhellten für Sekunden das umgepflügte Niemandsland zwischen dem Hügel und dem Waldrand. Drüben am Wald brachen die Granaten in die Bäume und schleuderten Äste und trockenes Gezweig hoch. Die Panzer schossen nicht. Erst als nach einiger Zeit auf dem Hügel plötzlich das Maschinengewehr zu schießen begann, krachte aus dem Dunkel der Bäume wieder der harte Schlag einer Panzerkanone, und auf der Kuppe des Hügels spritzte die Erde hoch.
Zado lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand des Loches. Er preßte eine Hand gegen den Leib und hielt sich mit der anderen am Wurzelwerk eines Strauches fest, den die Granate zerrissen hatte, von der das Loch getroffen worden war.
Bindig sah eine Weile zu, wie Zado in dieser Stellung an der Wand lehnte. Er beobachtete sein Gesicht, in dem sich der Schmerz abzeichnete, den ihm die Wunde verursachte. Dann sagte er plötzlich: »Wir müssen hier ’raus, du! Ich werde es versuchen. Wenn ich es bis zu den Panzern schaffe, können sie die auf dem Hügel eine Weile eindecken und inzwischen ein paar Träger herschicken. Es muß gehen…«
Zado bewegte kaum die Augenlider. Er sagte nur leise: »Geh! Sieh zu, daß du es schaffst. Ich bin sowieso fertig.«