Um Bindigs Kopf lag noch die Binde. Die Wunde heilte. Sie hatte überraschend schnell aufgehört zu schmerzen. Bindig zog die Pelzmütze tief in die Stirn, um das Weiß der Binde zu verdecken. Als das Feuer für Augenblicke nachließ, sprang er mit einem Satz aus dem Loch und begann zu laufen. Er kam ein paar Schritte weiter. Dann blitzte drüben am Wald das Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs auf, und er warf sich hin, den bösartig surrenden Ton der Geschosse im Ohr, die über ihn hinwegflogen. Er wollte eben wieder aufspringen und weiterlaufen, so weit, bis er auf Rufweite an den Wald herangekommen war, aber da zuckte die Mündungsflamme aus dem Panzergeschütz, und die Granate fuhr über ihn hinweg. Eine Welle heißer Luft drückte ihn an die aufgewühlte Erde. Sekundenlang nach der Detonation hörte er die Splitter um sich herum in den Boden klatschen. Er versuchte zu winken. Aber es war zu dunkel. Am Wald begann ein Maschinengewehr zu hämmern. Er blickte sich ängstlich um und sah nach dem Hügel. Dort war alles ruhig. Er legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief einmal, zweimal zum Wald hinüber, sie sollten ihn herankommen lassen. Doch seine Stimme war zu schwach. Sie drang nicht weit genug. Das Maschinengewehr sägte langsam weiter. Sie mußten ihn gesehen haben. Das Maschinengewehr tastete die Gegend ab, in der er lag. Er erinnerte sich daran, daß er die russische Uniform trug.
»Hallo!« rief er noch einmal. Der Ruf ging unter in einer Serie Granatwerfereinschläge, die hundert Meter vor dem Wald lagen. Mit einemmal hing eine Leuchtkugel über dem Hügel. Sie hing an einem kleinen, seidenen Schirm und trieb langsam auf den Wald zu. Ein weißer Ball, der den Schnee zwischen den Granatlöchern aufleuchten ließ und in deren Licht sich jede Einzelheit auf der Erde scharf abhob. Sie schwebte weiter und weiter. Bindig duckte den Kopf tief an die Erde. Er erstarrte gleichsam, und während er auf dem Boden lag, fuhr aus dem Rohr des einen Panzers am Waldrand der nächste Schuß. Er schlug zwischen Bindig und dem Loch ein, wo Zado lag. Bindig sprang auf und lief auf den Wald zu. Er schrie und winkte, schwenkte die Arme über dem Kopf. Die nächste Panzergranate schlug dort ein, wo er im Licht der Leuchtkugel gelegen hatte. Die Erdbatzen flogen bis zu Bindig. Er spürte, wie ihm der Luftdruck ins Genick fuhr. In diesem Augenblick ratterte wieder das Maschinengewehr am Wald los. Wenige Schritte vor Bindig spritzten die Geschosse in die Erde und warfen kleine Klümpchen von Dreck und Schnee hoch. Es war Leuchtspur, Bindig sah die schwachgrünen Fäden in der Luft hängen. Er ließ sich fallen und rollte ein Stück zur Seite. Über ihm zogen die Fäden der Leuchtspur.
»Kameraden…«, schrie er plötzlich. »He… Kameraden… Nicht schießen!« Seine Stimme brach heiser ab. Es hörte ihn niemand. Es kam auch keine Antwort. Nur ein paar Meter vor ihm, auf dem Kamm einer kleinen Welle im Boden, zerspritzten die Geschosse des Maschinengewehrs. Bindig rief noch einmal. Er rief immer wieder dasselbe. Er schrie sich die Kehle so heiser, daß er keinen Ton mehr herausbrachte. Es kam keine Antwort. Wenn er sich erhob, bellte am Wald das Maschinengewehr auf. Der Panzer schoß noch einmal in seine Nähe, dann schwieg er wieder. Das Feuer ließ nach. Einige Augenblicke lang war es völlig still. Erst dann jaulten wieder von weit hinter der sowjetischen Front ein paar Siebzehnzwo heran, die sich in den Wald bohrten. Bindig versuchte noch einmal, auf die Beine zu kommen und nach dem Wald zu laufen. Er sprang auf und lief, mit krächzender Stimme schreiend, daß sie nicht schießen sollten. Aber sie schossen. Der Schlag am linken Fußknöchel warf Bindig zu Boden. Er wälzte sich herum, und dabei spürte er den Schmerz. Der Fuß gehorchte nicht mehr. Der Knöchel war zerschmettert. Langsam ließ Bindig den Kopf sinken. Er preßte sich ganz dicht an die Erde und schloß die Augen. Er begriff, daß er den Wald nicht mehr erreichen konnte. Langsam begann er zurückzukriechen.
Er war noch nicht sehr weit gekommen, als von dem Hügel her das russische Maschinengewehr zu tacken begann. Es war ein langsames, bösartiges Geratter. Das Gewehr zielte auf Bindig. Er merkte es daran, daß die Geschosse ununterbrochen über ihn hinwegsurrten. Aber es konnte ihn nicht treffen, denn es stand zu hoch, und es konnte nicht weiter nach unten schwenken, weil es sonst in den Bereich des deutschen Maschinengewehrs am Waldrand gekommen wäre. Bindig hinterließ eine dünne rote Spur, wo er über Schnee kroch. Er arbeitete sich langsam auf den Unterarmen vorwärts und zog den Körper nach. Der Fuß schmerzte. Am Wald schoß wieder der Panzer, Die Granaten schlugen auf dem Hügel ein. Die Geschosse der Siebzehnzwo rauschten in regelmäßigen Abständen über den Hügel hinweg weit hinten in den Wald. Dazwischen schoß eine Batterie Werfer, deren Granaten gurgelnd zwischen die Bäume am Waldrand prasselten. Bindig erreichte das Loch, ohne noch einmal getroffen zu werden. Zado hatte sich aufgerichtet und blickte ihm entgegen. Er griff nach ihm, aber in seinem Griff war keine Kraft. Bindig schaffte es allein. Er wälzte sich über den Rand des Loches und ließ sich langsam hinabgleiten.
»Aus…«, sagte Zado müde. »Heb den Fuß hoch, vielleicht kann ich wenigstens einen Fetzen drumwickeln…«
Bindig legte sich mit dem Rücken an die Wand des Loches und hob das Bein, bis er es Zado auf das angezogene Knie des rechten Beines legen konnte. Zado hielt einen Fetzen in der Hand. Er konnte den Oberkörper nicht bewegen, er konnte sich auch nicht bücken, aber er schaffte es, Bindig den Knöchel zu verbinden. Eine Leuchtkugel flammte auf. Sie glitt wie vorhin, leicht vom Wind abgetrieben, auf den Wald zu und warf ihr Licht bis in das Loch, in dem die beiden hockten. Für ein paar Sekunden verzog Zado das Gesicht zu einem Grinsen.
»Schön, daß sie Licht machen…«, quetschte er zwischen den Zähnen hervor, »das hätten wir uns nicht träumen lassen!«
Er hatte viel Blut verloren. Sein Gesicht war gelblich geworden. Er wußte, daß in ein oder zwei Stunden die Schmerzen unerträglich sein würden, weil dann die Schmerztabletten nicht mehr wirkten. Er erinnerte sich sonderbar deutlich an den Tod des kleinen Oberkellners aus Stuttgart, wenn er die Maschinenpistole anblickte, die neben ihm lag.
Als die Leuchtkugel erloschen war, ließ Bindig den Fuß sinken und sagte leise: »Ich habe noch Zigaretten. Wir können uns welche anstecken. Es hat keinen Zweck mehr, sie aufzuheben.«
Sie brannten Zigaretten an und rauchten. Es waren Zigaretten von Warasin. Lange Pappmundstücke und wenig Tabak.
»Ob sie Timm gefunden haben?« fragte Zado.
Bindig antwortete nicht. Er zog an der Zigarette und blickte auf die Glut.
»Es tut mir leid, daß du nicht wenigstens Timm erschießen konntest«, sagte Zado langsam. »Es tut mir verdammt leid. Er hat Anna getötet, und du konntest ihn nicht dafür erschießen. Es hätte dir nicht so weh getan, wenn du es hättest tun können…«
Die Granatwerfer streuten den Waldtand ab. Die Geschosse prasselten in das Gezweig und zerplatzten mit puffenden, hohlen Detonationen. Dazwischen tackte wieder das Maschinengewehr auf dem Hügel.
»Er war schon tot«, sagte Bindig, »einen Toten kann man nicht noch einmal töten. Er hatte einen riesigen Glassplitter im Hals, die Hälfte davon hing heraus. Man kann selbst Timm nicht zweimal töten.«
»Er hätte es verdient. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß ich Timm so hasse. Ich hätte es ihm gegönnt, sechsmal zu sterben. Zwölfmal!«
»Wir wissen manches nicht. Und wir werden manches nicht mehr erfahren«, sagte Bindig.
Der Panzer schoß ein paar Granaten auf den Hügel. Das Maschinengewehr dort oben schwieg wieder.
»Und manches wissen wir«, sagte Zado, »aber das nutzt uns nichts mehr.« Er zog an seiner Zigarette, und sein Gesicht war sekundenlang von der Glut angeleuchtet. Es war ein blasses, sehr schmales Gesicht mit Falten um die Mundwinkel. Er sagte: »Es ist egal, wie lange wir hier noch liegen. Irgendjemand wird uns finden. Sind es die vom Wald drüben, unsere, dann werden sie mit Sicherheit annehmen, daß wir Russen sind. Sie werden sich freuen, daß sie uns erwischt haben. Sind es die Russen, die oben auf dem Hügel liegen, dann werden sie nachforschen, wer wir sind. Sie werden Timm finden und den Offizier. Für sie wird es die Gerechtigkeit sein, daß wir tot sind. Ich möchte wissen, ob es jemals Leute gegeben hat, die gestorben sind, wie wir sterben.«