Bindig ließ achtlos das Pappmundstück mit dem Rest Glut fallen. Es fiel in die zertrampelte Erde zu Zados Füßen, und die Glut erlosch in dem Gemengsel von Erde und Schnee.
»Noch sind wir nicht tot«, sagte Bindig. »Hör auf, davon zu reden.«
»Ja. Noch sind wir es nicht.« Zado warf seinen Zigarettenrest neben den Bindigs. »Ich wünschte, wir kämen durch. Wir würden Krüppel sein, aber sie würden keine Freude an uns haben…«
»Heutzutage gibt es schon vernünftige Prothesen«, sagte Bindig zögernd, »und ein geschickter Arzt kann deine Därme vielleicht wieder zusammenflicken.«
Zado lächelte, aber Bindig sah es nicht. Er fragte leise: »Was würdest du machen, wenn du hier noch einmal herauskämst?«
Dicht hinter dem Loch barst eine Siebzehnzwo-Granate. Sie sollte wohl dem Waldrand gelten, aber offenbar war das Geschütz zu kurz eingerichtet gewesen.
Während Zado sprach, tackte ununterbrochen das Maschinengewehr auf dem Hügel. Der Panzer schickte ein paar Granaten hinauf, aber sie hatten das Gewehr jetzt sicher eingegraben, und es schoß weiter.
»Wenn ich mir hier in diesem Loch überlege, was ich tun würde, dann sind das solche Sachen, die mir gut und gerne drei Hochverratsprozesse einbringen würden«, sagte Zado.
»Hier in diesem Loch merkt man, was man alles hätte tun können und was man nicht getan hat. Man stellt sich vor, was man würde tun können, wenn man es übersteht.«
Er atmete und preßte die Hand fest auf den Leib dabei. Dann sagte er: »Man müßte nach Hause kommen, und dann müßte man die Leute, die uns hierhergeschickt haben, an die Laternenpfahle hängen. Damit würde man anfangen. Dann die von den Zeitungen, die die Helden fabriziert haben, und die vom Radio. Man müßte die Garnisonen ausräumen und die Stäbe. Bis der Generalstab nur noch über seine Ordonnanzen befiehlt und über niemand sonst. Und dann müßte man ein paar gute Laternenpfähle für den Generalstab suchen und für alles andere, was sonst noch regiert und befehligt hat. Danach wäre der Dreck vorbei. Was dann kommt, weiß ich nicht. Ich habe keine Vorstellung davon.
Vielleicht sind wir überhaupt nur hier in diesem Loch gelandet, weil wir keine Vorstellung von dem haben, was danach kommt…«
Wieder schlug eine Granate in der Nähe des Loches ein und überschüttete die beiden mit einem Regen von Dreck und schmutzigem Schnee.
»Phantasie«, sagte Zado, »alles Phantasie. Wir werden hier nicht mehr davonkommen. Wir hätten uns das alles eher überlegen müssen. Jetzt ist es nur noch Phantasie.«
»Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich hier davonkäme«, sagte Bindig, »ich glaube, ich würde zurückgehen in meine Bibliothek, wenn es sie noch gibt. Ich würde wieder Bücher ausleihen. Bücher lesen. Musik hören. Vielleicht einmal wieder ins Kino gehen. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, das würde alles sein. Was es sonst noch gibt, würde ich denken, nicht tun.«
Er brannte eine neue Zigarette an und gab sie Zado. Dann nahm er selbst eine.
»So ist es«, sagte Zado, »genau so. Pläne haben wir. Aber am Ende würden wir die ganzen Pläne vergessen. Stell dir vor, es hätte uns nicht hier erwischt und wir wären drüben angekommen. Ohne daß es mir die Därme und dir den Knöchel zerrissen hätte. Denke nach und sei ehrlich dabei. Sie hätten uns nach hinten geschickt. Zurück zu unserem Haufen. Weit hinten. Dort, wo du keine Granate mehr hörst und kein Maschinengewehr. Und dann hätten wir uns ausgeschlafen und hätten unsere Verpflegung empfangen und Schnaps und Zigaretten. Es hätte Schokolade für uns gegeben, und wir hätten sie zu den Weibern mitgenommen. Und alles wäre so gewesen wie immer zuvor, nicht anders. Wenn du ehrlich bist, dann wirst du zugeben, daß es so gekommen wäre.«
Bindig nickte. »Ich glaube, ja. Ich hätte nicht gewußt, was sonst zu tun wäre. Ich wäre froh gewesen, noch zu leben, und ich hätte wieder Angst gehabt, das Leben zu verspielen.«
Er schwieg und lauschte dem Maschinengewehrfeuer, das wieder aufgeflackert war. Er hörte Zado sagen: »Das sind wir. Eine Generation, der sie das Rückgrat gebrochen haben. Wie haben es erst gemerkt, als wir uns aufrichten wollten. Wir können uns nicht allein aufrichten. Wir sind zerbrochen. Ich glaube, es ist nie zuvor eine Generation so zerbrochen gewesen wie wir.«
»Warasin hat mir gesagt, daß sie unsere Kriegsmaschine zerschlagen werden. Und danach müßte in Deutschland das Volk lernen, selbst zu regieren. Ich kann mir keine Vorstellung davon machen.«
»Es ist nicht nötig«, sagte Zado, »wir werden das nicht mehr erleben. Vielleicht hätte es sich gelohnt. Aber jetzt ist es egal.« Er sprach sehr langsam und sehr leise. Er holte mehrmals Atem zwischen den Worten.
»Hast du Schmerzen?« fragte Bindig.
»Vorhin, als du fort warst«, sagte Zado, »da habe ich überlegt, was sie aus uns gemacht haben. Sie haben uns genommen, wie wir von unseren Müttern kamen, und haben uns befohlen, was wir zu tun haben und was wir denken dürfen. Sie haben uns gesagt, wer zu töten ist und auf welche Weise. Sie haben uns Orden gegeben und Marketenderschnaps. Sie haben uns in ganz Europa herumgehetzt, so lange, bis uns ganz Europa verflucht hat. Sie haben uns getötet. Lange bevor wir hier in diesem Loch krepieren werden, haben sie uns getötet…«
»Sie?« sagte Bindig.
»Ja, sie.« Zado verzog das Gesicht. Er hustete ein paarmal und keuchte dabei, denn der Husten ließ das Blut aus der Wunde im Leib quellen. »Später wird einmal jeder wissen, wer sie gewesen sind. Wir haben nur eine ziemlich schwache Vorstellung davon. Aber später…«
Drüben am Waldrand war mit einem Male Motorengeräusch. Zuerst war es nur das hohle Blubbern leer laufender Panzermotoren. Aber dann brüllten die Motoren auf, und in das Aufbrüllen der Motoren mischte sich das Geratter von Maschinengewehren. Es war, als würde plötzlich das ganze Feuer noch einmal zusammengerafft. Die Schüsse hackten die Erde auf dem Hügel in Fetzen. Von der Kuppe kam die Antwort und fuhr zwischen die Bäume, die Dunkelheit mit den zerfließenden Fäden der Leuchtspur zerschneidend. Dann krachten dort die äußeren, dünnen Stämme, und die verborgen gewesenen Panzer krochen schaukelnd, sich wiegend, ins Freie. Es waren zwei »Tiger« und ein Sturmgeschütz. Das Sturmgeschütz feuerte aus seinem kurzen Rohr auf die Hügelkuppe. Aus den beiden anderen Panzern kamen die Fäden der Leuchtspur. Das Gebell der Maschinengewehre ging unter im Gerassel der Ketten.
In weitem Bogen fuhr das Sturmgeschütz um den Hügel herum. Die beiden Panzer kurvten im Zickzack heran. Aus den Kanonen in den Türmen schossen die Flammen der Abschüsse.
»Jesus, sie wollen den Hügel haben…«, murmelte Zado, »sie wollen den Hügel…«
Von der Kuppe kam der dumpfe Abschuß der Panzerbüchsen. Dann hingen mit einemmal ein paar Leuchtkugeln in der Luft, und alles war in ihr weißes, kaltes Licht getaucht.
Hinter den Panzern schoben sich ein paar Schützenpanzerwagen aus dem Wald. Es waren kleine, wendige Fahrzeuge, die mit großer Geschwindigkeit herankamen. Und dann sprangen die ersten Infanteristen heran, in den Granatlöchern Deckung suchend, sich immer wieder hinwerfend, und schossen aus ihren Gewehren auf den Hügel. Zwischen ihnen tauchten kleine rötliche Flämmchen aus dem Boden. Die Granatwerfer hinter dem Hügel schossen unablässig. Eine der Panzerbüchsen hatte das Sturmgeschütz getroffen. Es gab einen scharfen, metallischen Krach und eine grelle Stichflamme, von einer schmetternden Explosion gefolgt. Bindig richtete sich auf und hob die Schultern über die Kante des Loches. Mit der einen Hand winkte er dem Schützenpanzerwagen zu, der hin und her kurvte und im Zickzack herankam. »Ich will nicht hier krepieren!« schrie Bindig in das Gehämmer der Waffen. »Ich will nicht… ich…«