»Nein, Seherin«, protestierte Mat. Er sah aus, als wünsche er sich, irgendwo weit weg zu sein. »Es war doch der alte Bi... Ich meine, Meister Congar und nicht ich! Blut und Asche, ich... «
»Hüte deine Zunge, Matrim!«
Rand richtete sich unwillkürlich steif auf, obwohl ihr zorniger Blick gar nicht ihm galt. Perrin sah genauso zerknirscht aus. Später würde sich der eine oder andere von ihnen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darüber beklagen, daß sie von einer Frau heruntergeputzt worden waren, die nicht viel älter als sie selbst war — das geschah jedesmal, wenn Nynaeve geschimpft hatte, allerdings außerhalb ihrer Hörweite -, doch von Angesicht zu Angesicht schien der Altersunterschied plötzlich groß genug. Besonders, wenn sie richtig wütend war. Der Stock in ihrer Hand hatte ein dickes Ende und lief auf der anderen Seite in eine dünne Rute aus, und man mußte bei ihr damit rechnen, daß sie jedem damit eins überzog, der sich in ihren Augen wie ein Narr benahm — auf den Kopf oder die Hände oder Beine -gleich, wie alt sie waren und welche Stellung sie im Dorf innehatten.
Rand hatte seine Aufmerksamkeit auf die Seherin konzentriert und so war es ihm entgangen, daß sie nicht allein war. Als er seinen Fehler bemerkte, wollte er fortrennen, gleichgültig, was Nynaeve später sagen oder tun würde.
Egwene stand ein paar Schritte hinter der Seherin und beobachtete alles aufmerksam. Sie war genauso groß wie Nynaeve und hatte denselben dunklen Teint. In diesem Augenblick schien sie Nynaeves Stimmung widerzuspiegeln, die Arme unter den Brüsten verschränkt, den Mund mißbilligend verzogen. Die Kapuze ihres weichen grauen Umhangs warf einen Schatten über ihr Gesicht, und in ihren großen braunen Augen fand sich keine Spur von Lachen.
Es wäre ja nur angemessen, dachte er, daß die zwei Jahre, die er älter war als sie, ihm einen Vorteil verschafften, aber das war nicht der Fall. Er war sowieso nie sehr wortgewandt, wenn er sich mit einem Mädchen aus dem Dorf unterhielt (im Gegensatz zu Perrin), aber wenn ihn Egwene eindringlich ansah, die Augen so groß, als konzentriere sie jeden Funken Aufmerksamkeit auf ihn, dann stolperte er über jedes Wort. Vielleicht konnte er sich verdrücken, wenn Nynaeve ausgeredet hatte. Und doch wußte er, daß er nicht gehen würde; er verstand nur nicht, warum.
»Wenn du damit fertig bist, mich wie ein Mondkalb anzustarren, Rand al'Thor«, sagte Nynaeve, »kannst du mir vielleicht erklären, warum ihr über etwas gesprochen habt, wovon selbst ihr drei großen Jungstiere die Finger lassen solltet. Das hätte euch euer Verstand sagen müssen.«
Rand schrak zusammen und riß den Blick von Egwene los, deren Gesicht ein beunruhigendes Lächeln zeigte, seit die Seherin zu sprechen begonnen hatte. Nynaeves Stimme klang beißend, aber auch auf ihrem Gesicht zeigte sich ein wissendes Lächeln — bis Mat laut loslachte. Da verschwand das Lächeln der Seherin, und ihr Blick verwandelte Mats Lachen in ein abgewürgtes Krächzen.
»Also, Rand?« fragte Nynaeve.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, daß Egwene immer noch lächelte. Was findet sie denn so lustig? »Es war ganz natürlich, daß wir darauf kommen mußten, Seherin«, sagte er hastig. »Der Händler — Padan Fain... äh... Meister Fain — erzählte uns von einem falschen Drachen in Ghealdan und einem Krieg und den Aes Sedai. Der Gemeinderat hielt es für wichtig genug, um mit ihm zu sprechen. Worüber hätten wir da sonst wohl reden sollen?«
Nynaeve schüttelte den Kopf. »Also deshalb steht der Wagen des Händlers verlassen herum. Ich hörte, wie die Leute hinauseilten, um ihn zu treffen, aber ich konnte Frau Ayellin nicht verlassen, bevor ihr Fieber sank. Der Gemeinderat befragt den Händler über die Ereignisse in Ghealdan, nicht wahr? Wie ich sie kenne, stellen sie alle möglichen falschen Fragen und keine richtigen. Da ist schon der Frauenzirkel nötig, um etwas Nützliches herauszubringen.« Sie zog den Umhang fest um die Schultern und verschwand in der Schenke.
Egwene folgte der Seherin nicht. Als sich die Tür zur Schenke hinter Nynaeve schloß, kam die junge Frau auf Rand zu und stellte sich vor ihn hin. Die Falten waren von ihrer Stirn verschwunden, doch ihr unverwandter Blick machte Rand nervös. Er sah sich nach seinen Freunden um, aber die gingen und grinsten breit, während sie ihn so im Stich ließen.
»Du solltest dich nicht in Mats Dummheiten hineinziehen lassen, Rand«, sagte Egwene genauso ernst wie die Seherin zuvor, und dann plötzlich kicherte sie. »Ich habe dich nicht mehr so verdattert dreinblicken sehen, seit Cenn Buie dich und Mat oben in seinen Apfelbäumen entdeckt hat, als ihr zehn wart.«
Er trat von einem Fuß auf den anderen und schaute sich nach seinen Freunden um. Sie standen nicht weit entfernt. Mat gestikulierte aufgeregt beim Sprechen.
»Tanzt du morgen mit mir?« Das hatte er eigentlich nicht sagen wollen. Er wollte wohl mit ihr tanzen, aber gleichzeitig wollte er auch wieder nicht, weil er sich so unsicher fühlen würde wie immer, wenn er mit ihr zusammen war. So, wie er sich im Moment auch fühlte.
Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Am Nachmittag«, sagte sie. »Am Vormittag bin ich beschäftigt.«
Von den anderen hörte er Perrins Ausruf: »Ein Gaukler!«
Egwene wandte sich ihnen zu, doch Rand legte eine Hand auf ihren Arm. »Beschäftigt? Womit denn?«
Trotz der Kälte schob sie die Kapuze zurück und zog das Haar mit beiläufiger Geste über die Schulter nach vorn. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren ihr dunkle Haarwogen bis auf die Schultern gefallen, von einem roten Stirnband gehalten; doch nun war das Haar zu einem langen Zopf geflochten.
Er sah ihren Zopf an, als sei es eine Viper, und warf einen kurzen Blick hinüber zum Frühlingsbaum, der nun verlassen auf dem Grün stand, fertig vorbereitet für morgen. Am Morgen würden unverheiratete Frauen im heiratsfähigen Alter um den Baum tanzen. Er schluckte schwer. Irgendwie war ihm nie klar gewesen, daß sie das heiratsfähige Alter zur gleichen Zeit wie er erreichte.
»Nur weil jemand alt genug zum Heiraten ist«, murmelte er, »heißt das noch nicht, daß man's auch tun sollte. Jedenfalls nicht gleich.«
»Natürlich nicht. Oder überhaupt, was das betrifft.«
Rand blinzelte überrascht. »Überhaupt?«
»Eine Seherin heiratet fast nie. Nynaeve bildet mich aus, weißt du. Sie sagt, ich habe das Talent dazu und könne lernen, dem Wind zu lauschen. Nynaeve sagt, nicht alle Seherinnen können das, auch wenn sie es behaupten.«
»Seherin!« rief er spöttisch. Er bemerkte das gefährliche Glitzern in ihren Augen nicht. »Nynaeve wird noch mindestens fünfzig Jahre lang hier die Seherin sein, vielleicht auch länger. Willst du den Rest deines Lebens als ihr Lehrmädchen verbringen?«
»Es gibt auch andere Dörfer«, antwortete sie hitzig. »Nynaeve sagt, die Dörfer im Norden des Taren wählen grundsätzlich eine Seherin von auswärts. Sie glauben, die werde niemanden aus dem Dorf bevorzugen.«
Sein Spott verging ihm so schnell, wie er gekommen war. »Außerhalb der Zwei Flüsse? Ich würde dich niemals wiedersehen!«
»Und das würde dir nicht gefallen? In letzter Zeit hast du mir kaum gezeigt, daß dir etwas an mir liegt, so oder so.«
»Niemand verläßt die Zwei Flüsse«, fuhr er fort. »Vielleicht jemand aus Taren-Fähre, aber die sind alle sowieso ganz komisch. Nicht wie die anderen ZweiFlüsse-Leute.«
Egwene stieß einen hoffnungslosen Seufzer aus. »Na ja, vielleicht bin ich auch komisch. Vielleicht will ich einige der Orte sehen, von denen ich in den Geschichten gehört habe. Hast du jemals daran gedacht?«