»Natürlich habe ich daran gedacht. Ich träume auch manchmal mit offenen Augen, aber ich kenne den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit.«
»Und ich nicht?« fragte sie wütend und wandte ihm prompt den Rücken zu.
»Das habe ich nicht so gemeint. Ich habe von mir gesprochen. Egwene?«
Sie zog schnell ihren Mantel ganz eng um sich zusammen — eine Mauer, um ihn fernzuhalten — und ging ein paar Schritte weg. Enttäuscht rieb er sich die Stirn. Wie sollte er das erklären? Es war nicht das erste Mal, daß sie seinen Worten eine ganz andere Bedeutung gab als die beabsichtigte. Bei ihrer augenblicklichen Laune würde ein Fehltritt die Sache nur noch schlimmer machen, und er war sich ziemlich sicher, daß beinahe alles, was er sagte, einen Fehltritt darstellen würde.
Dann kamen Mat und Perrin zurück. Egwene übersah ihr Kommen. Sie sahen sie vorsichtig an und stellten sich dann dicht neben Rand. »Moiraine gab Perrin auch eine Münze«, sagte Mat. »So eine wie uns.« Er legte eine Pause ein, bevor er hinzufügte: »Und er hat den Reiter gesehen.«
»Wo?« wollte Rand wissen. »Wann? Hat ihn sonst noch jemand gesehen? Hast du es jemandem erzählt?«
Perrin hob beide Hände, um ihn zu unterbrechen. »Immer nur eine Frage auf einmal! Ich habe ihn am Dorfrand gesehen, als er gestern in der Dämmerung die Schmiede beobachtete. Hat mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Ich habe es Meister Luhhan erzählt, doch da war niemand, als er hinsah. Er sagte, ich sähe Gespenster. Aber er trug seinen größten Hammer mit herum, als wir das Feuer mit Asche belegten und die Werkzeuge aufhängten. Das hat er noch nie zuvor getan.«
»Also hat er dir geglaubt«, sagte Rand, doch Perrin zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht. Ich fragte ihn, warum er den Hammer trage, wenn ich doch nur Gespenster gesehen hätte, und er sagte etwas über die Wölfe und daß sie frech genug seien, um bis ins Dorf hinein zu kommen. Vielleicht glaubte er, ich hätte einen Wolf gesehen, aber er sollte wissen, daß ich den Unterschied zwischen einem Wolf und einen Berittenen sogar in der Abenddämmerung kenne. Ich weiß, was ich gesehen habe, und keiner wird mich von etwas anderem überzeugen.«
»Ich glaube dir«, sagte Rand. »Vergiß nicht, daß ich ihn auch gesehen habe.« Perrin gab ein befriedigtes Grunzen von sich, als sei er sich nicht sicher gewesen.
»Worüber sprecht ihr eigentlich?« wollte Egwene plötzlich wissen.
Rand wünschte sich plötzlich, er hätte leiser gesprochen. Das hätte er auch getan, doch er hatte nicht gemerkt, daß sie lauschte. Mat und Perrin grinsten wie die Narren und überschlugen sich beinahe, um ihr von ihren Zusammentreffen mit dem schwarzgekleideten Reiter zu erzählen. Nur Rand schwieg. Er wußte, was sie sagen würde, wenn sie fertig waren.
»Nynaeve hatte recht«, verkündete Egwene mit zum Himmel gerichtetem Blick, als die beiden jungen Männer endlich schwiegen. »Keiner von euch sollte von Mutters Schürzenzipfel weggelassen werden. Es gibt Leute, die auf Pferden reiten, wißt ihr? Deshalb sind sie noch lange keine Ungeheuer aus den Geschichten eines Gauklers.«
Rand nickte vor sich hin; sie redete genauso, wie er es erwartet hatte. Dann bekam er sein Fett weg. »Und du hast diese Märchen verbreitet. Manchmal scheinst du einfach keinen gesunden Menschenverstand zu haben, Rand al'Thor. Der Winter war schon furchtbar genug, ohne daß du herumläufst und Kinder erschreckst.«
Rand schnitt eine saure Grimasse. »Ich habe gar nichts verbreitet, Egwene. Aber ich habe gesehen, was ich gesehen habe, und das war kein Bauer, der nach einer streunenden Kuh suchte.«
Egwene holte tief Luft und öffnete den Mund, aber was sie auch immer sagen wollte, kam nicht heraus, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür der Schenke, und ein Mann mit struppigem weißen Haar hetzte heraus, als sei jemand hinter ihm her.
4
Der Gaukler
Die Tür der Schenke schlug hinter dem weißhaarigen Mann zu, und er fuhr herum und funkelte sie an. Er war mager, und man konnte ihn an sich hochgewachsen nennen, wäre da nicht die leicht bucklige Haltung gewesen. Trotzdem — er bewegte sich so frisch, daß man ihm das Alter nicht anmerkte. Sein Umhang schien aus einer Unzahl von Flicken zu bestehen, in den eigenartigsten Formen und Größen, die in jedem Lufthauch flatterten, Flicken in hundert verschiedenen Farben. Der Umhang war in Wirklichkeit recht dick, sah Rand, obwohl Meister al'Vere ja anderes behauptet hatte, und die Flicken waren lediglich als Dekoration aufgenäht.
»Der Gaukler!« flüsterte Egwene aufgeregt.
Der weißhaarige Mann wirbelte herum, und der Umhang leuchtete auf.
Sein langer Mantel hatte seltsam aufgebauschte Ärmel und große Taschen. Ein kräftiger Schnurrbart, genauso weiß wie das Haar auf dem Kopf, zitterte über dem Mund, und das Gesicht war knorrig wie ein Baum, der schwere Zeiten hinter sich hatte. Mit einer langstieligen, mit Schnitzwerk verzierten Pfeife zeigte er gebieterisch auf Rand und die anderen. Ein dünner Rauchfaden erhob sich daraus. Blaue Augen spähten unter buschigen weißen Augenbrauen hervor und durchbohrten alles, worauf er blickte.
Rand betrachtete die Augen des Mannes genauso intensiv wie die ganze Gestalt. Jedermann von den Zwei Flüssen hatte dunkle Augen, und bei den meisten Kaufleuten und ihren Wächtern und jedem sonst, den er bisher gesehen hatte, war das auch der Fall. Die Congars und die Coplins hatten sich über seine grauen Augen lustig gemacht, jedenfalls bis zu dem Tag, da er endlich Ewal Coplin eins auf die Nase gegeben hatte. Die Seherin hatte ihn deshalb ganz schön ausgeschimpft. Er fragte sich, ob es einen Ort gab, an dem niemand dunkle Augen hatte. Vielleicht kommt auch Lan von dort.
»Was für ein Ort ist das hier eigentlich?« fragte der Gaukler mit tiefer Stimme, die irgendwie gewaltiger klang als die eines gewöhnlichen Mannes. Selbst draußen im Freien schien sie einen großen Saal zu füllen und von den Wänden widerzuhallen. »Die Bauerntrampel in diesem Dorf auf dem Hügel erzählen mir, ich könne noch vor Einbruch der Dunkelheit hier ankommen, vergessen aber, mir zu sagen, daß ich dazu früh am Vormittag bereits aufbrechen muß. Als ich dann endlich ankomme, bis auf die Knochen durchgefroren und reif für ein warmes Bett, meckert euer Wirt, daß es schon so spät sei, als sei ich ein wandernder Schweinehirt und als hätte mich nicht euer Gemeinderat gebeten, bei diesem Fest hier meine Kunst zu zeigen. Und er sagte mir noch nicht einmal, daß er der Bürgermeister ist!« Er holte erst einmal Luft, betrachtete alle finster und legte einen Moment später schon wieder los. »Als ich runterging, um meine Pfeife vor dem Kamin zu rauchen und einen Krug Bier zu trinken, sieht mich jedermann im Schankraum an, als sei ich sein bestgehaßter Schwager und versuche, mir von ihm Geld zu leihen. Irgendein alter Opa fängt an, mir Vorträge zu halten, welche Art von Geschichten ich erzählen soll und welche nicht, und dann schreit mich so ein kindisches kleines Mädchen an, ich solle abhauen, und bedroht mich mit einem Knüppel, als ich nicht schnell genug springe. Wo hat man denn so was schon gehört, daß man einen Gaukler derart behandelt?«
Es lohnte sich, Egwenes Gesicht zu studieren. Sie war hin- und hergerissen. Einerseits bestaunte sie den Gaukler mit großen Augen, und andererseits sah man, daß sie Nynaeve verteidigen wollte.
»Entschuldigt, Meister Gaukler«, sagte Rand. Er wußte, daß er dabei selbst idiotisch grinste. »Das war unsere Seherin, und... «
»Dieses hübsche kleine Ding von einem Mädchen?« rief der Gaukler. »Eine Dorfseherin? Na, in ihrem Alter sollte sie lieber mit jungen Männern flirten, als das Wetter vorherzusagen und Kranke zu heilen.«
Rand fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut. Hoffentlich hörte Nynaeve nicht, was der Mann von ihr hielt. Zumindest nicht, bevor er seine Vorstellung beendet hatte. Perrin fuhr bei den Worten des Gauklers zusammen, und Mat pfiff tonlos durch die Zähne, als gingen den beiden Freunden dieselben Gedanken durch den Kopf wie ihm.