Das Dorf lag nahe am Westwald. Der Wald wurde immer lichter, und die letzten Bäume standen bereits zwischen den stabil gebauten Holzhäusern. Der Boden fiel sanft nach Osten zu ab. Auch dort gab es kleine Waldstücke. Bauernhöfe, von Hecken eingerahmte Felder und Weideflächen bedeckten das Land jenseits des Dorfes bis hin zum Wasserwald und seinem Gewirr von Bächen und Teichen. Nach Westen zu war das Land genauso fruchtbar, und in den meisten Jahren wirkten die Weiden üppig. Doch im Westwald fand man nur eine Handvoll Bauernhöfe. Und auch diese verschwanden schließlich bereits Meilen vor den Sandhügeln und noch weiter vor den Verschleierten Bergen, die sich über den Baumwipfeln des Westwalds erhoben, fern, doch von Emondsfeld aus deutlich sichtbar. Manche sagten, das Land sei zu steinig — als ob es nicht überall in den Zwei Flüssen Steine gegeben hätte -, und andere behaupteten, das Land dort bringe Unglück. Ein paar murmelten, es habe keinen Sinn, näher als nötig zu den Bergen hin zu ziehen. Aus welchen Gründen auch immer — jedenfalls unterhielten nur die widerstandsfähigsten Männer im Westwald Bauernhöfe.
Kleine Kinder und Hunde hüpften in jubelnden Horden um den Karren herum, sobald er die erste Häuserzeile hinter sich gebracht hatte. Bela trottete geduldig weiter und achtete nicht auf die schreienden Kinder, die vor ihrer Nase herumkugelten, Fangen spielten und Reifen vor sich her trieben. In den letzten Monaten hatten die Kinder wenig gespielt oder gelacht. Selbst als das Wetter freundlich genug geworden war, daß die Kinder draußen spielen konnten, hatte die Angst vor Wölfen sie im Haus festgehalten. Es schien, mit dem Näherkommen von Bel Tine hatten sie auch wieder Spielen gelernt.
Das Fest hatte genauso seine Auswirkungen auf die Erwachsenen. Die breiten Fensterläden waren geöffnet, und in fast jedem Haus stand die Hausfrau an einem Fenster, die Schürze umgebunden und die zu langen Zöpfen geflochtenen Haare hochgesteckt und in ein Tuch eingebunden, schüttelte Bettücher aus oder hängte Matratzen über die Fenstersimse. Ob nun junges Grün auf den Bäumen wuchs oder nicht, keine Frau würde Bel Tine erleben, ohne vorher ihren Frühjahrsputz erledigt zu haben. In jedem Hof hingen Läufer an gespannten Leinen, und Kinder, die nicht schnell genug gewesen und zum Spielen auf die Straße gerannt waren, ließen ihren Verdruß mit Korbklopfern an den Teppichen aus. Auf den Dächern kletterten die Hausherren herum, überprüften die Strohbündel auf Winterschäden und überlegten, ob sie den alten Cenn Buie, den Dachdecker, rufen mußten.
Mehrmals blieb Tam stehen, um sich mit dem einen oder anderen Mann kurz zu unterhalten. Da er und Rand die Farm wochenlang nicht mehr verlassen hatten, wollte jeder von ihnen wissen, wie die Lage da draußen sei. Nur wenige Männer aus dem Westwald waren ins Dorf gekommen. Tam erzählte von den Schäden, die die Winterstürme angerichtet hatten, nach jedem Sturm schlimmer, und von totgeborenen Lämmern, von braunen Feldern, wo die Saat aufgehen oder das Weidegras sprießen sollte, von Rabenschwärmen, wo in früheren Jahren Singvögel genistet hatten. Bittere Themen, wenn außenherum die Vorbereitungen für Bel Tine getroffen wurden, und viele Köpfe wurden geschüttelt. Es war überall das gleiche.
Die meisten Männer zuckten die Achseln und sagten: »Tja, wir werden's überleben, so das Licht will.« Einige grinsten und fügten hinzu: »Und wenn das Licht nicht will, werden wir trotzdem überleben.«
Das war die Art der meisten Zwei-Flüsse-Leute. Menschen, die zusehen mußten, wie der Hagel ihre Ernte vernichtete oder Wölfe ihre Lämmer rissen, und die von vorn anfangen mußten, gaben nicht so leicht auf, sooft das Schicksal auch zuschlagen mochte. Die meisten derjenigen, die aufgegeben hatten, waren schon lange weg.
Tam hätte wegen Wit Congar nicht angehalten, wenn der Mann nicht auf die Straße getreten wäre, so daß sie halten mußten, sonst hätte Bela ihn überfahren. Die Congars und die Coplins (die beiden Familien hatten so oft untereinander geheiratet, daß niemand mehr wußte, wo die eine Familie endete und die andere begann) waren von Wachhügel bis Devenritt und vielleicht sogar bis hin zur Taren-Fähre als Nörgler und Unruhestifter bekannt.
»Ich muß das zu Bran al'Vere bringen, Wit«, sagte Tam und deutete mit einem Kopfnicken auf die Fässer im Karren, doch der hagere Mann blieb mit saurem Gesichtsausdruck mitten im Weg stehen. Er hatte auf den Stufen seiner Vordertreppe gesessen, nicht oben auf dem Dach, obwohl die Strohbedeckung aussah, als habe sie einen Besuch von Meister Buie dringend nötig. Er schien nie darauf vorbereitet zu sein, etwas zu beginnen oder etwas zu beenden, was er vorher in Angriff genommen hatte. Die meisten Coplins oder Congars waren so, jedenfalls diejenigen, die nicht noch schlimmer waren.
»Was machen wir mit Nynaeve, al'Thor?« wollte Congar wissen. »Wir können doch nicht so eine Seherin in Emondsfeld zulassen.«
Tam seufzte tief. »Das ist nicht unsere Sache, Wit. Über die Seherin müssen die Frauen entscheiden.«
»Also, wir sollten besser etwas unternehmen, al'Thor. Sie sagte, wir bekämen einen milden Winter. Und eine gute Ernte. Und wenn man sie jetzt fragt, was ihr der Wind erzählt, dann schneidet sie nur eine Grimasse und rennt weg.«
»Wenn du sie so angesprochen hast, wie du das gewöhnlich tust, Wit«, sagte Tam geduldig, »dann hattest du Glück, daß sie dir nicht den Stock, den sie immer trägt, über den Schädel gezogen hat. So, und wenn du jetzt erlaubst, dieser Schnaps... «
»Nynaeve al'Meara ist zu jung für eine Seherin, al'Thor. Wenn der Frauenzirkel nichts unternimmt, muß es eben der Gemeinderat tun.«
»Was hast du dich denn um die Seherin zu kümmern, Wit Congar?« brüllte eine Frauenstimme. Wit zuckte zusammen, als seine Frau aus dem Haus marschierte. Daise Congar war doppelt so breit wie Wit; eine Frau mit hartem Gesicht, an deren Körper keine Unze Fett zu finden war. Sie starrte ihn böse an, die Hände in die Hüften gestützt. »Wenn du versuchst, dich in die Angelegenheiten des Frauenzirkels einzumischen, dann kannst du sehen, ob es dir gefällt, dir das Essen selbst zu kochen. Aber nicht in meiner Küche. Und dir selbst die Kleider zu waschen und das Bett zu machen. Und das nicht unter meinem Dach!«
»Aber, Daise«, winselte Wit, »ich habe gerade... «
»Entschuldige mich bitte, Daise«, sagte Tam. »Wit. Möge das Licht Euch beiden leuchten.« Er setzte Bela wieder in Bewegung und führte sie um den hageren Burschen herum. Daise konzentrierte sich im Moment auf ihren Mann, aber jede Minute konnte sie bemerken, mit wem Wit gesprochen hatte.
Deshalb hatten sie keine der Einladungen zum Essen oder auf ein heißes Getränk angenommen. Wenn sie Tam sahen, benahmen sich die Hausfrauen aus Emondsfeld wie ein Hund auf der heißen Fährte eines Kaninchens. Es gab keine einzige unter ihnen, die nicht die ideale Frau für einen Witwer mit einem schönen Hof gewußt hätte, auch wenn der Hof im Westwald lag.
Rand ging fast genauso schnell wie Tam, vielleicht sogar noch schneller. Wenn Tam nicht dabei war, wurde er manchesmal in die Enge getrieben, und es gab keinen Ausweg, außer grob zu werden. Er wurde auf einen Stuhl am Küchenherd getrieben, ihm wurden Plätzchen oder Honigkuchen oder Fleischpasteten eingetrichtert. Und immer musterten und maßen ihn die Augen der Hausfrau mindestens ebenso genau wie die Waagen eines Händlers, während sie ihm erzählte, das, was er da esse, sei nicht halb so gut wie das Essen ihrer verwitweten Schwester oder ihrer zweitältesten Kusine. Tam wurde schließlich auch nicht jünger, sagte sie dann. Es war gut, daß er seine Frau so geliebt hatte — das versprach viel für die nächste Frau in seinem Leben -, aber er hatte lang genug getrauert. Tam brauchte eine gute Frau. Es sei eine klare Tatsache, sagte sie dann gewöhnlich, daß ein Mann einfach nicht ohne eine Frau auskam, die für ihn sorgte und ihn behütete. Die schlimmsten von allen legten dann eine Gedankenpause ein und fragten anschließend mit sorgfältig geplanter Gleichgültigkeit, wie alt er denn jetzt eigentlich sei.