»Ich möchte den Hof heutzutage lieber nicht verlassen, Bran«, antwortete Tam. »Nicht, wenn sich die Wölfe so verhalten wie jetzt. Und dann das Wetter.«
Bran räusperte sich. »Ich wünschte, jemand würde sich mal über etwas anderes auslassen als das Wetter. Alle beklagen sich darüber, und Leute, die es besser wissen sollten, erwarten, daß ich alles in Ordnung bringe. Ich habe gerade zwanzig Minuten lang versucht, Frau al'Donel zu erklären, daß ich nichts machen kann, wenn die Störche ausbleiben. Was sie wohl von mir erwartete...?« Er schüttelte den Kopf.
»Ein schlimmes Vorzeichen«, verkündete eine krächzende Stimme, »wenn zur Bel Tine keine Störche auf den Dächern nisten.« Cenn Buie, so knorrig und dunkel wie eine alte Wurzel, kam zu Tam und Bran herüber. Er stützte sich auf seinen Stock, der beinahe so groß war wie er und genauso knorrig. Er versuchte, beide Männer gleichzeitig zu beäugen. »Es wird noch Schlimmeres kommen, verlaßt euch drauf!«
»Bist du jetzt unter die Wahrsager gegangen und erklärst uns die Vorzeichen?« fragte Tam trocken. »Oder lauschst du dem Wind wie eine Seherin? Davon gibt es sicher genug. Ein bißchen Wind wird wohl auch hier in unserer Umgebung gemacht.«
»Macht euch nur über mich lustig«, murmelte Cenn, »aber wenn es nicht bald warm genug wird, daß die Saat aufgeht, dann wird mancher Bierkeller leer sein, bevor es wieder eine Ernte gibt. Bis zum nächsten Winter leben bei den Zwei Flüssen dann vielleicht nur noch Wölfe und Raben. Wenn es überhaupt einen nächsten Winter gibt. Vielleicht bleibt es auch einfach bei diesem Winter.«
»Was soll das nun wieder heißen?« sagte Bran mit scharfer Stimme.
Cenn musterte sie mit verkniffenem Blick. »Ich kann nicht viel Gutes über Nynaeve al'Meara sagen. Das weißt du. Zum einen ist sie zu jung, um... Was soll's. Der Frauenzirkel scheint etwas dagegen zu haben, daß der Gemeinderat auch nur über ihre Angelegenheiten spricht, aber sie mischen sich in unsere ein, wann immer sie wollen, also ständig, jedenfalls scheint es so... «
»Cenn«, unterbrach Tam ihn, »willst du auf etwas Bestimmtes hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, al'Thor, daß die Seherin immer wegläuft, wenn man sie fragt, wann der Winter zu Ende sein wird. Vielleicht will sie uns nicht sagen, was der Wind ihr erzählt. Vielleicht hört sie, daß der Winter nicht mehr aufhören wird. Vielleicht wird es einfach Winter bleiben, bis das Rad sich dreht und das Zeitalter vorbei ist. Darauf will ich hinaus.«
»Und vielleicht fliegen dann auch die Schafe«, schoß Tam zurück, und Bran hob die Hände ergeben gen Himmel.
»Das Licht bewahre mich vor Narren. Du sitzt im Gemeinderat, Cenn, und nun verbreitest du dieses Coplin-Geschwätz. Hör mir mal gut zu. Wir haben schon genug Probleme, ohne... «
Ein schnelles Zupfen an Rands Ärmel und eine Stimme fast im Flüsterton, nur für Rands Ohren bestimmt, lenkten ihn von dem Gespräch der älteren Männer ab. »Komm schon, Rand, während sie sich streiten! Bevor sie dich arbeiten lassen.«
Rand sah hinunter und mußte grinsen. Mat Cauthon kauerte neben dem Karren, so daß Tam und Bran und Cenn ihn nicht sehen konnten. Sein drahtiger Körper war so verdreht wie ein Storch, der versucht, den Hals um sich herumzuwinden.
Mats braune Augen funkelten schelmisch wie immer. »Dav und ich haben einen großen alten Dachs gefangen.
Der war ganz mürrisch, als wir ihn aus seiner Höhle herauszogen. Wir lassen ihn auf dem Grün laufen, und du sollst mal sehen, wie die Mädchen rennen!«
Rands Lächeln wurde noch breiter. Was Mat wollte, erschien ihm heute nicht mehr so witzig wie noch vor einem oder zwei Jahren, aber Mat schien eben nie erwachsen zu werden. Er sah schnell zu seinem Vater hinüber — die Männer steckten immer noch die Köpfe zusammen und redeten alle gleichzeitig — und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Ich habe versprochen, den Most abzuladen. Ich kann dich aber später treffen.«
Mat verdrehte die Augen. »Fässer schleppen! O du mein Licht! Da spiele ich noch lieber mit meiner kleinen Schwester. Aber ich weiß auch noch Besseres als einen Dachs. Es sind Fremde in der Gegend der Zwei Flüsse. Gestern abend... «
Für einen Augenblick stockte Rand der Atem. »Ein Mann auf einem Pferd?« fragte er eindringlich. »Ein Mann mit schwarzem Mantel auf einem schwarzen Pferd? Und sein Mantel weht nicht im Wind?«
Mat vergaß sein Grinsen, und seine Stimme fiel zu einem heiseren Flüstern ab. »Du hast ihn auch gesehen? Ich dachte, ich sei der einzige gewesen. Lach nicht, Rand, aber ich habe Angst vor ihm bekommen.«
»Ich werde mich hüten, zu lachen. Ich habe auch Angst bekommen. Ich könnte schwören, daß er mich haßt und daß er mich töten wollte.« Rand überlief es kalt. Bis zu diesem Tag war ihm nie in den Sinn gekommen, daß jemand ihn töten wollte, ihn wirklich töten wollte. So etwas passierte einfach nicht bei den Zwei Flüssen. Eine Prügelei vielleicht oder ein Ringkampf, aber kein Mord.
»Ich habe nichts von Haß bemerkt, Rand, aber er war schon zum Fürchten. Er saß nur auf seinem Pferd und sah mich an, gerade außerhalb des Dorfs, aber ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst. Na ja, ich habe für einen Augenblick weggesehen — das war nicht leicht, weißt du -, und als ich wieder hinsah, war er verschwunden. Blut und Asche! Vor drei Tagen war das, und ich kann kaum aufhören, daran zu denken. Ich sehe mich ständig um!« Mat bemühte sich zu lachen, aber es wurde nur ein Krächzen daraus. »Schon komisch, wie einen die Angst packen kann. Man kommt auf die seltsamsten Sachen. Ich habe wirklich gedacht — nur eine Minute lang, verstehst du -, es könnte der Dunkle König sein.« Er versuchte wieder zu lachen, aber diesmal drang aus seinem Mund kein einziger Laut.
Rand atmete tief ein. Dann zitierte er, auch um sich darauf zu besinnen: »Der Dunkle König und alle die Verlorenen sind in Shayol Ghul gebunden, jenseits der Großen Fäule, vom Schöpfer im Augenblick der Schöpfung gebunden bis ans Ende der Zeit. Die Hand des Schöpfers behütet die Welt, und das Licht scheint uns allen.« Er holte wieder Luft und fuhr fort: »Außerdem, wenn er frei wäre, wieso würde dann der Schäfer der Nacht bei den Zwei Flüssen Bauernjungen beobachten?«
»Ich weiß nicht. Aber ich weiß, daß dieser Reiter -böse war. Lach nicht! Ich könnte es beschwören. Vielleicht war es der Drache.«
»Deine Gedanken können einen schon aufheitern, nicht wahr?« murmelte Rand. »Du hörst dich noch schlimmer als Cenn an.«
»Meine Mutter hat mir immer gesagt, die Verlorenen würden mich holen, wenn ich mich nicht ändere. Wenn ich jemals einen gesehen habe, der wie Ishamael oder Aginor aussah, dann ihn.«
»Jede Mutter jagt einem mit den Verlorenen Angst ein«, bemerkte Rand trocken, »aber die meisten sind irgendwann mal zu alt dafür. Wie wär's denn mit dem Schwarzen Mann, wenn du schon dabei bist?«
Mat funkelte ihn an. »Ich habe nicht mehr solche Angst gehabt, seit... Nein, ich habe noch nie solche Angst gehabt, und es macht mir nichts aus, das zuzugeben.«
»Mir auch nicht. Mein Vater glaubt, ich hätte unter den Bäumen Geister gesehen.«
Mat nickte bedrückt und lehnte sich zurück an das Wagenrad. »Das denkt mein Paps auch. Ich habe es Dav erzählt und Elam Dowtry. Sie haben seither wie die Habichte Ausschau gehalten, aber nichts gesehen. Jetzt denkt Elam, ich wollte ihn an der Nase herumführen. Dav glaubt, es sei einer von der Taren-Fähre, irgendein Schafoder Hühnerdieb. Ein Hühnerdieb!« Er verfiel in beleidigtes Schweigen.
»Vielleicht ist es auch wirklich nur Einbildung«, sagte Rand schließlich »Er könnte ja echt nur ein Schafdieb sein.« Er versuchte, sich das vorzustellen, aber das war, als stelle man sich einen Wolf vor, der an Stelle der Katze vor dem Mauseloch Platz nimmt.
»Also, mir hat die Art nicht gefallen, wie er mich angesehen hat. Und dir wohl auch nicht, denn du bist bei mir ganz schön zusammengefahren, und das läßt tief blicken. Wir sollten mit jemand darüber sprechen.«