»Schickt... schickt es fort!« sagte sie. »Bitte!«
Hraban seufzte. »Aber er ist völlig harmlos«, sagte er, scheinbar verständnisvoll, aber trotzdem mit einer hörbaren Spur von Verärgerung in der Stimme. Er schien kein sehr geduldiger Mann zu sein.
»Schickt es fort!« beharrte Talianna. »Es... es macht mir Angst.«
Hraban seufzte abermals, nahm aber dann die rechte Hand von Taliannas Schulter und gab dem Käferwesen einen Wink. Die Antennen auf Sixxas Kopf zuckten hektisch; ein rasselnder, unangenehmer Laut kam aus seinem dreieckigen Insektenmaul. Aber es wandte sich gehorsam um und verschwand wieder in dem Zelt, aus dem es gekommen war. Als sich die Plane hob, erhaschte Talianna einen kurzen Blick in sein Inneres, und für einen Moment glaubte sie ruckhafte schwarze Bewegung zu sehen. Etwas glitzerte. Talianna sah rasch weg.
Hraban löste auch die andere Hand von ihrer Schulter, drehte sie abermals herum und ließ sich wieder in die Hocke sinken. »Es tut mir leid, daß Sixxa dich so erschreckt hat«, sagte er. »Ich dachte, daß ihr die Hornköpfe kennt. Sie sind wirklich harmlos, trotz ihres furchteinflößenden Aussehens.« Er lachte. Es klang nicht ganz echt. »In unserem Lager sind viele von ihnen. Sie sind nützlich, und sehr treu. Manche von unseren Kindern reiten auf ihnen.«
Talianna hatte immer noch Mühe, nicht vor Furcht einfach loszuweinen. Sie hatte niemals zuvor im Leben etwas Entsetzlicheres gesehen als das schwarze Alp-traumwesen, das Hraban so harmlos als Hornkopf bezeichnet hatte. Sie hatte auch niemals zuvor von aufrecht gehenden, intelligenten Insekten gehört.
»Sind... sind sie... nicht-Menschen?« fragte sie stockend.
Hraban runzelte die Stirn. »Eine gute Frage«, gestand er,
»aber ich weiß es nicht. Manchmal kommt es mir fast so vor, aber...« Er stockte, blickte einen Moment lang an Talianna vorbei auf das Zelt, in dem der Käfer verschwunden war, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Sie sind nur Tiere, wenn auch sehr geleh-rige Tiere. Ich glaube nicht, daß sie denken, so wie du oder ich.«
Der Gedanke beruhigte Talianna ein wenig. Das Schlimmste an Sixxa war vielleicht der Blick seiner Augen gewesen, schimmernder in allen Farben des Regenbogens, in denen eine böse, abschätzende Intelligenz gelauert zu haben schien. Die Vorstellung, daß dieses Monster intelligent sein könnte, erfüllte sie mit Grauen, obwohl sie selbst nicht zu sagen vermochte, warum.
Hraban stand wieder auf. Als er weitersprach, klang seine Stimme verändert. »Ich glaube, es war ein bißchen zu viel für dich, Talianna«, sagte er. »Ich bringe dich jetzt zurück zu deinem alten Mann, und du ruhst dich ein bißchen aus. Wenn ich mit meiner Arbeit hier fertig bin, komme ich zu euch, und wir reden noch ein bißchen.
Einverstanden?«
Talianna nickte. Hraban brachte sie zu Gedelfi zurück, der schweigend und in unveränderter Haltung vor dem fast heruntergebrannten Feuer hockte, als hätte er sich die ganze Zeit über nicht bewegt. Er sah nicht einmal auf, als er Hrabans und Taliannas Schritte hörte.
Und das Sonderbarste war: er fragte nicht mit einem einzigen Wort danach, was Talianna gesehen hatte.
Es wurde sehr heiß, als die Sonne höherstieg, denn das Mittsommerfest, das ja gestern hätte gefeiert werden sollen, lag wirklich auf dem heißesten Tag des Sommers, wenngleich die Natur sich dem von Menschen geschaffe-nen Kalender auch in diesem Punkt nur in den allerwenigsten Fällen unterwarf. Aber zumindest war es die heißeste Zeit des Jahres, und das bedeutete selbst hier im Norden Mittagsstunden, in denen sich die Menschen kaum aus den Häusern trauten und auch die Arbeit ruhte, außer in den Minen, in denen es immer Nacht und immer warm war. Hier draußen jedoch, wo es keinen Schutz mehr gab, wurde es beinahe unerträglich, schon lange bevor die Sonne den höchsten Punkt ihrer ruhe-losen Wanderung erreicht hatte, und Talianna und die anderen zogen sich in den Schatten einer Ruine zurück, auch wenn die unmittelbare Nähe der geschwärzten Mauern sie mit einem Unbehagen erfüllte, das fast schlimmer war als wirkliche Furcht.
Unterdessen schwärmten Hrabans Krieger in weitem Umkreis aus, um nach weiteren Überlebenden der Katastrophe zu suchen. Das Floß war nach weniger als einer Stunde fertig gewesen und seither drei- oder viermal über den Fluß gependelt, so daß die Suche auch dort drüben fortgesetzt werden konnte, vor allem in den Bergwerken, in denen Hraban noch immer Verschüttete vermutete. Auch ein paar Stahldörfler beteiligten sich an der Suche, wenngleich Hraban keinen Hehl daraus gemacht hatte, wie wenig ihm ihre Hilfe behagte.
Aber sie blieb ohnehin ergebnislos. Die kleinen Gruppen, die Hraban losgeschickt hatte, kamen im Laufe des Tages eine nach der anderen zurück, und sie waren alle allein. Talianna begann endgültig zu begreifen, daß es keine Überlebenden gegeben hatte. Die Vernichtung war ebenso total wie sinnlos gewesen, und es war ja auch alles viel zu schnell gegangen. Auch sie und die anderen zehn verdankten ihr Leben ja schließlich nur einem Zufall. Zwanzig Meter weiter vom Waldrand entfernt und näher an der Stadt wären auch sie getötet worden.
Wie Hraban versprochen hatte, kam er wieder zu ihr, wenn auch erst spät am Nachmittag und nicht, um zu essen. Er kam nicht allein: das Schildkrötenwesen Hrhon war bei ihm, was die anderen Überlebenden dazu veran-laßte, sich hastig ein Stück zurückzuziehen oder zumindest mitten im Gespräch zu verstummen und den Söldner und seinen bizarren Begleiter mit schlecht verhohle-ner Furcht anzustarren. Nur Talianna zeigte keine Angst; irgendwie glaubte sie zu spüren, daß die grüngeschuppte Gestalt wirklich so freundlich und harmlos war, wie Hraban behauptete. Außerdem brauchte sie sich nur den schwarzen Riesenkäfer ins Gedächtnis zurückzurufen, um Hrhon schon beinahe schön zu finden.
Hraban sah müde aus, und seine Bewegungen hatten viel von ihrer Ruhe und Kraft verloren und waren jetzt fast fahrig. Seine Kleider waren voller Schmutz und schwarzem Ruß, und Talianna bemerkte einen schwarzen Kratzer auf seiner rechten Wange, der gerade erst zu bluten aufgehört hatte, denn die Kruste darauf war noch sehr hell. Ohne ein Wort zu sagen, ließ er sich mit untergeschlagenen Beinen vor Talianna nieder, legte die Hände auf die Knie und gab seinem reptilischen Begleiter mit einer Kopfbewegung zu verstehen, es ihm gleichzu-tun. Hrhon hockte sich umständlich zu Boden, zog die Beine unter den Leib und sah nun wirklich aus wie eine Schildkröte, die vor hundert Jahren vergessen hatte, mit dem Wachsen aufzuhören. Der Blick seiner dunklen Augen huschte unstet von Talianna zu Gedelfi und wieder zurück.
»Wer ist gekommen?« fragte Gedelfi plötzlich. Er sah auf, blickte so genau in Hrabans Richtung, als könne er ihn sehen, wandte plötzlich den Kopf und schnüffelte hör- und sichtbar. Natürlich, dachte Talianna. Er mußte den Waga riechen. Selbst ihr war sein scharfer Reptilien-geruch nicht entgangen, als sie ihm das erste Mal begegnet war.
»Hraban«, antwortete Hraban an Taliannas Stelle.
»Und wer noch?« Gedelfi schnüffelte erneut. »Etwas ist bei dir. Ein nicht-Mensch.«
Hraban nickte. »Hrhon«, sagte er. »Mein Leibwächter.
Er ist ein Waga. Die Hälfte meiner Krieger sind nicht-Menschen. Hat Talianna dir nichts davon erzählt?« Bei diesen Worten sah er Talianna so fragend und gleichzeitig vorwurfsvoll an, daß sie unwillkürlich die Arme hob und antwortete: »Er hat nicht gefragt.«
»So?« Hrabans Stirnrunzeln vertiefte sich. »Ist das wahr, alter Mann? Ich dachte immer, Blinde seien besonders begierig, alles zu erfahren, was geschieht.«
»Ich brauche nichts über euch zu erfahren«, erwiderte Gedelfi feindselig. »Ich weiß, wer ihr seid.«
Hraban seufzte, setzte zu einer scharfen Antwort an und beließ es dann bei einem neuerlichen Seufzen und einem unterstützenden Kopfschütteln. »Du glaubst also zu wissen, wer wir sind«, sagte er nur.