»Großer Gott!« flüsterte Angella. »Was ist hier geschehen?! «
»Ich... ich weiß es nicht«, sagte Tally. »Aber ich glaube dir, daß du es nicht warst.«
»Oh, vielen Dank«, fauchte Angella. Auch sie war blaß geworden, hatte sich aber deutlich besser in der Gewalt als Tally. »Ich nehme deine Entschuldigung an. Und wenn dir wieder einmal danach ist, jemanden zu ohrfei-gen, komm einfach zu mir.«
»Aber wenn... wenn du es nicht warst - wer dann?«
fragte Tally verstört. »Habt ihr irgend etwas gesehen
- oder gehört?«
Angella schüttelte ärgerlich den Kopf, bückte sich nach ihrem Dolch und schob ihn mit einem unnötig harten Ruck in den Gürtel. »Vielleicht ein Tier«, vermutete sie.
»Karan hat uns vor Raubtieren gewarnt, oder?«
»Ein Tier?« Tally zwang sich, noch einmal auf die Tote herabzusehen. Beinahe sofort wurde ihr wieder übel. »Ich kann mir kein Tier vorstellen, das so etwas anrichten könnte.«
»Ich schon«, erwiderte Angella. »Ich kenne sogar ein paar.«
»Aber ein Ungeheuer von dieser Größe müßte Spuren hinterlassen!« Tally deutete auf den Boden. Der Sand war von ihren und den Schritten der beiden Drachenreiterinnen aufgewühlt - aber es waren nur die Spuren menschlicher Füße, die sie sah. Und plötzlich war die Angst da.
Von einer Sekunde auf die andere bildete sich Tally ein, angestarrt zu werden, belauert von unsichtbaren, gierigen Augen. Und waren da nicht Schritte in der Stille?
Sie verscheuchte den Gedanken.
»Vielleicht ist es geflogen«, murmelte Angella. Aber auch sie wirkte plötzlich verunsichert.
»Das hätten wir gesehen.« Tally schüttelte entschieden den Kopf. Dann fiel ihr etwas auf. »Die Hornköpfe!«
sagte sie.
Angella blickte verstört zu den beiden gigantischen Fluginsekten hinüber. Sie hatten sich nicht gerührt, sonder standen einfach reglos da, aneinandergebunden und mit teilnahmelos glitzernden Facettenaugen. »Was soll damit sein?«
»Sssie lheben«, sagte Hrhon.
»Genau!« Tally nickte heftig. »Wenn das hier ein Raubtier war, warum hat es sie dann nicht auch getötet?«
Angella sah sie und Waga einen Moment lang betroffen an, dann machte sie eine ärgerliche Handbewegung.
»Ach verdammt, woher soll ich das wissen?« fauchte sie.
»Und es interessiert mich auch nicht, zum Teufel. Wir sollten machen, daß wir hier wegkommen, bevor das, was diese beiden getötet hat zurückkommt, um sich noch einen Nachschlag zu holen.«
Es war seltsam - aber Tally wußte ganz genau, daß diese Gefahr nicht bestand. Der Anblick der beiden entsetzlich verstümmelten Leichname vor ihr erfüllte sie mit Ekel und Entsetzen, aber sie wußte mit unerschütterlicher Gewißheit, daß weder Angella noch sie oder Waga in Gefahr waren. Wer oder was auch immer hiergewesen war, er hatte ganz gezielt die beiden Drachenreiterinnen ausgeschaltet, mit einer Kälte und Präzision, die Tally schaudern ließ.
Trotzdem nickte sie nach einer Weile. »Du hast recht«, sagte sie. »Verschwinden wir von hier. Ich habe eine Quelle gefunden, nur ein paar Schritte von hier. Mit Trinkwasser.« Sie deutete auf die beiden Hornköpfe.
»Seht zu, daß ihr irgend etwas findet, worin wir Wasser abfüllen können. Es sind zwei Tagesmärsche bis zum Berg. Mindestens.«
Angella starrte sie einen Moment lang feindselig an, ging dann aber gehorsam zu den beiden riesigen Fluginsekten hinüber und begann die Ausrüstung der beiden Frauen zu durchsuchen, während Tally ihren Widerwillen abermals niederkämpfte und noch einmal neben der Toten niederkniete.
Sie führte zu Ende, was Angella begonnen hatte - sie durchsuchte ihre Taschen, löste schließlich sogar ihren Gürtel und öffnete die zahllosen Schnallen und Täschchen, die darin eingearbeitet waren. Sie fand eine Menge sonderbarer Dinge - die meistens davon völlig fremdartig und einige von durchaus gefährlichem Aussehen
- aber nicht, wonach sie eigentlich suchte. Aber das mochte daran liegen, daß sie selbst keine sehr klare Vorstellung davon hatte, was es war...
Sie warf alles, was sie fand, auf einen Haufen, ging schließlich auch zu der zweiten Toten hinüber und leerte auch ihre Taschen. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die riesige Laserwaffe an sich zu nehmen. Die Vorstellung war verlockend - schon die kleinen, handlichen Laser, mit denen Angella, Hrhon und sie bewaffnet waren, versetzte sie in die Lage, es mit einer kleinen Armee aufzunehmen - um wieviel furchtbarer mußte die Wirkung dieser gewaltigen Waffe sein?
Trotzdem legte sie das Gewehr nach kurzem Zögern wieder aus der Hand. Sein Schaft war mit einer Unzahl von Knöpfen, Skalen und kleinen leuchtenden Augen übersät; Tally hatte keine Ahnung, wie diese Waffe zu handhaben war. Und keine besondere Lust, sich die Beine wegzubrennen, während sie versuchte, es herauszufinden ...
»Ich bin fertig!« Angella kam zurück, zwei an ledernen Riemen befestigte Feldflaschen in der rechten und einen dritten, etwas größeren Behälter in der anderen Hand.
»Das ist alles, was ich gefunden habe«, sagte sie. »Die beiden Flaschen sind voll.«
»Dann trinkt sie aus«, befahl Tally, gleichzeitig an Angella wie an den Waga gewandt. »Trinkt, so viel ihr könnt. Wir füllen sie an der Quelle auf.«
Angella zuckte die Achseln, schraubte jedoch sofort den Verschluß der einen Feldflasche auf und warf Hrhon die zweite zu.
»Was suchst du eigentlich?« fragte sie, nachdem sie ihren Durst gestillt und sich den Rest des Wassers über Gesicht und Hals geschüttet hatte.
»Ich weiß es selbst nicht genau«, gestand Tally. Sie seufzte, stand auf und blickte mit einer Mischung aus Resignation und Zorn auf das Sammelsurium unverständlicher Dinge herunter, das sie aus den Taschen der beiden Toten genommen hatte. »Ich beginne mich nur zu fragen, ob es wirklich Zufall ist, daß sie uns immer wieder aufspüren.«
Angella zog eine Grimasse. »Komisch«, sagte sie. »Ich erinnere mich schwach, vor einer halben Stunde den gleichen Verdacht geäußert zu haben. Bloß hast du mich da niedergebrüllt.«
Sie schraubte die Flasche wieder zu und kam mit fast gemächlichen Schritten näher. Ihr Blick huschte über die Laserwaffe, die Tally achtlos zur Seite geworfen hatte.
Aber sie ging mit keinem Wort darauf ein. »Und du denkst, du findest die Antwort...« Sie stockte. Ein verblüffter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.
»Ich Idiot«, murmelte Angella. »Oh verdammt, ich glaube ich habe die Ohrfeige verdient, die du mir gegeben hast - wenigstens die erste!«
»Wovon zum Teufel redest du?« fragte Tally ärgerlich.
»Von Jandhi!« erwiderte Angella. »Du hast sie schon einmal getroffen, nicht wahr? Ich meine, vor dem Lagerhaus?«
»Einmal«, sagte Tally. »Aber das war, bevor sie wußte wer - «