Tally antwortete nicht. Aber sie dachte noch sehr lange darüber nach, ob Angella sich wirklich versprochen hatte, als sie sagte: deine rechte Hand...
Aus den zwei Tagen, die Tally für den Weg zum Drachenfels veranschlagt hatte, wurden fünf, denn der Berg war zum einen sehr viel weiter entfernt, als sie geglaubt hatte, und sie kamen zum anderen sehr viel langsamer voran, als sie gefürchtet hatte. Sie marschierten nur nachts, was zwar mühsam und nicht ganz ungefährlich war; denn die Steinwüste entpuppte sich als gigantisches Labyrinth aus jäh aufklaffenden Abgründen und bodenlosen Spalten. Trotzdem wäre es unmöglich gewesen, bei Tageslicht zu marschieren. Es wurde nicht annähernd so heiß, wie Tally befürchtet hatte - aber der Himmel über dem Schlund war voller Drachen.
Angellas Plan schien nicht aufgegangen zu sein.
Schon am ersten Morgen sahen sie einen der gewaltigen, dreieckigen Schatten am Himmel kreisen, und der Tag war noch nicht zur Hälfte vorbei, als mehr und mehr der riesigen Tiere über ihnen erschienen - zu viele, viel zu viele, als daß es Zufall oder bloße Routine sein konnte. Tally zählte mehr als zwei Dutzend der titanischen Flugechsen, die in unregelmäßigen Spiralen über der Wüste kreisten, manchmal reglos zu verharren schienen, manchmal aber auch so tief auf das Labyrinth aus Felsen und Abgründen herabstießen, daß sie die schwarzgekleideten Gestalten auf ihren Rücken erkennen konnte.
Keiner von ihnen sprach es aus, aber es war klar, was diese plötzliche Änderung in Jandhis Taktik bedeutete: sie suchte sie. Sie, Angella und Hrhon, aber vor allem sie. Und Tally verstand allmählich selbst nicht mehr, warum.
Sicher - sie hatte Jandhi gedemütigt, mehr als einmal, und sie hatte wahrscheinlich mehr ihrer Kriegerinnen getötet als alle Klorschas und Banditen Schelfheims zusammen - und doch war nichts davon Grund genug, einen derartigen Aufwand zu rechtfertigen. Nicht, wenn man bedachte, daß Jandhi ja im Grunde nichts anderes zu tun brauchte, als abzuwarten, bis Tally ganz von selbst zu ihr kam...
Aber auch auf diese Frage fand sie - wie auf so viele
- keine Antwort. Und schon bald dachte sie auch nicht mehr darüber nach, denn sie brauchte jedes bißchen Kraft, das sie aufbringen konnte, um am Leben zu bleiben.
Das Gelände wurde schwieriger, mit beinahe jedem Meter, den sie weiter nach Norden kamen. Das Netzwerk aus Rissen und Schründen, das den Boden durchzog, wurde dichter, und gleichzeitig nahmen die Felsen ab - ein Umstand, der besonders tagsüber nicht nur lästig, sondern lebensgefährlich war; denn die Drachen kreisten ununterbrochen am Himmel, und es wurde immer schwieriger, ein Versteck zu finden.
Aber zumindest in einem Punkt hatten sie Glück: keines der zahllosen Raubtiere, vor denen Karan sie gewarnt hatte, griff sie an, ja, sie sahen nicht einmal etwas Lebendes, mit Ausnahme einer riesigen Kreatur, die an einen aufrecht gehenden Haifisch erinnerte, aber hastig die Flucht ergriff, als Hhron einen Stein nach ihr schleuderte.
Und sie waren nicht allein. Tally sprach mit keinem der beiden anderen darüber, aber sie spürte es überdeutlich, und sie war sicher, daß zumindest Hrhon es ebenfalls fühlte: etwas folgte ihnen. Es war kein Zufall, daß die räuberischen Bewohner des Schlundes sie mieden, so wenig, wie es Zufall gewesen war, daß sie den Wipfelwald so vollkommen unbehelligt durchquert hatten.
Irgend etwas war in ihrer Nähe, etwas, das sie schützte.
Und zugleich bedrohte.
Am Morgen der fünften Nacht, die sie sich durch den Schlund geschleppt hatten, lag der Drachenfels vor ihnen.
Es war kein Berg, wie ihn Tally jemals zuvor gesehen hatte, sondern ein Alptraum: ein schwarz und tiefdun-kelgrün marmorierter Riesenspeer, den ein tobsüchtiger Gott in den Boden gerammt haben mußte, lotrecht auf-steigend und fünf, sechs, vielleicht noch mehr Meilen hoch. Es gab kein sanftes Ansteigen des Bodens, keine Hänge, sondern nur den Schlund und dahinter den Berg, gerade wie eine Wand in den Himmel ragend und so hoch, daß Tally schwindelte, als sie den Kopf in den Nacken legte, um zu seinem Gipfel hinaufzusehen.
»Unmöglich«, sagte Angella. Ihre Stimme war sehr ruhig; matt. Die Anstrengungen der letzten Nächte klangen in jeder Silbe mit. Und ihre Worte waren frei von jeder Bitterkeit oder gar von Vorwurf. Es war einfach eine Feststellung. Aber es gab keinen Widerspruch dagegen. Und Tally wußte, daß sie recht hatte. Es war unmöglich. Niemand, der keine Flügel hatte konnte diesen Berg besteigen.
Tally fühlte... nichts.
Es war sonderbar - sie hätte enttäuscht sein müssen, verzweifelt, zornig... aber sie spürte nichts von alledem. Allenfalls ein nicht einmal sehr starkes Gefühl von Resignation, eine ganz sanfte, aber nicht sehr unerwartete Enttäuschung. Sie hatte einen Drachen getötet. Sie hatte der Macht die Stirn geboten, die über diese Welt herrschte, länger, als die Geschichte der Völker zurück-reichte, sie hatte dem gräßlichsten Ungeheuer, das die Götter jemals ersonnen hatten, - dem Schlund - ein Schnippchen geschlagen. Aber dieser Berg besiegte sie.
Einfach dadurch, daß er da war.
Und doch spürte sie, daß es richtig war.
Vielleicht... ja, dachte sie matt, vielleicht war das der Grund, aus dem sie so unbeteiligt schien. Die Erkenntnis, daß Angella und sie an diesem Berg scheitern muß-
ten, kam nicht überraschend. Sie hatten ihn gesehen, während der letzten fünf Nächte, ein ganz allmählich größer werdender Schatten vor dem Nachthimmel, und irgendwie war es - jetzt - als hätte etwas in ihr die ganze Zeit über gewußt, wie unmöglich es war, ihn zu ersteigen.
Es war wie ein Stein, der noch gefehlt hatte, das Mosaik vollends zusammenzufügen, und der nur so und nicht anders sein konnte, sollte er passen. Der Endpunkt einer Entwicklung, die irgendwann einmal ihren Anfang genommen hatte und ihren Händen längst entglitten war. Vielleicht hatte sie niemals wirklich Einfluß darauf gehabt. Zum erstenmal, seit sie vor so unendlich langer Zeit als Kind aus dem Wald getreten war und ihre Heimatstadt in Trümmern unter sich liegen gesehen hatte, fragte sie sich, ob sie vielleicht nicht in Wahrheit nur ein Werkzeug war, das Werkzeug einer höheren, durch und durch grausamen Macht, auf deren Entschei-dungen sie keinen Einfluß hatte.
»Unmöglich!« sagte Angella noch einmal. »Das...
das schaffen wir nicht! Niemand schafft das!«
Tally schwieg. Sie spürte, daß Angella auf eine Antwort wartete, darauf wartete, daß sie irgend etwas sagte, irgend etwas, aber es gab nichts, was sie sagen konnte. Sie waren am Ende ihres Weges angelangt. Vielleicht war dies eine jener Geschichten, dachte sie, die nicht gut endeten. Eine jener Geschichte, die niemand weitererzählen würde, weil die Helden am Ende nicht siegten, sondern den Tod fanden, nur ein paar Narren mehr, die sich eingebildet hatten, dem Schicksal eine lange Nase drehen zu können.
Sie blickte den Berg an, dann den Himmel, der sich ganz allmählich rot zu färben begann, und dann den Berggipfel. In wenigen Augenblicken würden die Drachen ausschwärmen. Es wäre leicht, dachte sie. Sie brauchten nichts anderes zu tu als einfach dazustehen und zu warten, bis sie sie sahen. Vielleicht würde der Tod im Feuer der Drachen entsetzlich sein, aber er würde nicht lange dauern. Ein kurzer Augenblick furchtbarer Hitze, vielleicht - und auch das nur vielleicht - ein kurzer Schmerz. Und nichts mehr.