Aber es wäre falsch. Irgend etwas fehlte noch. Dies alles war nicht sinnlos gewesen, das spürte sie, sondern Teil eines sorgsam ausgeklüngelten Planes. Und sein Ziel war nicht ihr Tod. Wenigstens noch nicht jetzt. Die Lösung, die endgültige Erklärung, war da, ganz dicht unter ihren Gedanken, aber ihrem Zugriff noch entzo-gen, wie ein noch ungeborenes Kind.
Und dann wußte sie, was zu tun war.
Ganz langsam zog sie den Laser aus dem Gürtel, schaltete die Waffe ein und richtete sie auf den Berg.
Angella erbleichte Schrecken. »Was tust du?« keuchte sie. »Du wirst alles verderben? Tally! NEIN!!!«
Tallys Finger verharrte ein winziges Stück über dem Auslöser. Eine Waffe vibrierte in ihrer Hand; sie spürte die Energie, die darauf wartete, entfesselt zu werden, das Drängen in ihrem Inneren, es zu tun, es endlich zu Ende zu bringen, die unhörbare, aber drängende Stimme, die ihr zuflüsterte, daß Angella und der Waga unwichtig waren. Ihr Leben zählte so wenig wie das Tallys, wie das irgendeines der zahllosen anderen lebenden Wesen, die sie ausgelöscht hatte, um hierher zu kommen. Sie war hier, und sie wußte jetzt, wie sie ihre Rache vollziehen konnte, eine Rache, die tausendmal schrecklicher war, als sich Jandhi und ihre Schwester auch nur vorstellen konnten.
Und trotzdem zögerte sie noch.
»Geh«, sagte sie leise.
Angella starrte sie an. »Was... was hast du gesagt?«
»Geh«, wiederholte Tally. »Und auch du, Hrhon - ihr könnt gehen. Was jetzt kommt, geht nur noch mich an.«
Angella starrte die Waffe in Tallys Hand an, dann sie selbst. »Du... du willst...«
»Ich will nicht«, unterbrach sie Tally, sehr leise, aber in einem Ton, der es Angella unmöglich machte, zu widersprechen. »Ich muß. Ich werde tun, was nötig ist. Ich mußt dort hinauf, und es gibt nur einen Weg, dies zu tun.«
»Als Jandhis Gefangene?« Angella lachte, aber es war wohl eher ein Schrei. »Das hättest du leichter haben können!«
Tally antwortete nicht. Wie sollte sie Angella erklären, daß es nur diesen und keinen anderen Weg gegeben hatte? Wie sollte sie etwas erklären, das sie selbst zwar wußte, aber nicht verstand? Wortlos schüttelte sie den Kopf.
Angella trat einen Schritt auf sie zu und blieb stehen, als Hrhon drohend die Hände hob. »Du... du bist wahnsinnig!« keuchte sie. »Ich bitte dich, Tally - überlege, was du tust! Sie werden dich umbringen!«
»Wahrscheinlich«, antwortete Tally. »Aber zuerst werden sie mich dort hinaufbringen. Alles andere zählt nicht.«
»Verdammt noch mal, bist du nur hierhergekommen, um zu sterben?« brüllte Angella. Plötzlich duckte sie sich unter Hrhons Arm hindurch, sprang auf Tally zu und versuchte ihre Hand herunterzuschlagen. Hrhon packte sie im Nacken, riß sie zurück und schleuderte sie zu Boden.
»Laß sie«, sagte Tally sanft. Sie lächelte, senkte den Laser noch einmal und deutete mit der anderen Hand nach Süden, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Geh, Angella«, sagte sie. »Es ist vorbei. Für dich, und auch für Hrhon.«
»Gehen?« Angella stand auf, hob die Hände und führte die Bewegung nicht zu Ende. Tally hatte selten zuvor einen Ausdruck größerer Hilflosigkeit im Gesicht eines Menschen gesehen. »Aber... aber wohin denn?«
»Euch wird nichts geschehen«, sagte Tally. »Geht zurück zur Klippe. Ihr werdet einen Weg hinauf finden, ich bin sicher. Jandhi wird euch nicht mehr behel-ligen. Sie will nur mich.«
»Und du willst sie«, stellte Angella fest. Plötzlich war ihr Zorn wie weggeblasen. Auf eine völlig andere, aber ebenso erschreckende Art wirkte sie so kalt und entschlossen wie Tally. »Und wenn ich bleibe?« Sie sah Tally herausfordernd an.
»Dann wirst du sterben«, antwortete Tally. »Willst du das?«
»Du willst es doch auch, oder?« Angella ballte die Faust. »Du bist nicht die einzige, die glaubt, ein Recht auf Jandhis Kopf zu haben, Tallyliebling. Ich weiß nicht, was sie dir getan haben, aber ich weiß, was sie mir getan haben, und ich gehe nicht hier fort, als wäre nichts geschehen, ohne daß irgend jemand dafür bezahlt hat. Du hast kein Monopol auf Haß, Liebling.«
Tally schwieg endlose Sekunden. Sie spürte, daß es Angella ernst war; zum erstenmal, seit sie sich kennengelernt hatten, hatte sie das Gefühl, einer erwachsenen Frau gegenüberzustehen, keinem dummen Kind.
»Du meinst es ernst«, sagte sie.
Angella hob die Hand und deutete auf ihr verbranntes Gesicht. »Du hast mich niemals gefragt, woher ich das hier habe«, sagte sie leise. »Ich war einmal so schön wie du, Tally. Aber Jandhi hat dafür gesorgt, daß ich zu einem Monstrum wurde. Und jetzt sag noch einmal, ich soll gehen.«
Tally sagte es nicht. Statt dessen wandte sie sich an Hrhon und sah den Waga sehr lange und sehr ernst an.
Sie sagte kein Wort, aber der Waga verstand die Frage trotzdem.
»Sssie habhen Essk ghethöhtet«, zischte er.
Es war entschieden. Und aus einem Grund, den Tally selbst nicht verstand, war sie sehr froh. Von allem hatte sie der Gedanke, allein dort hinaufgehen zu müssen, vielleicht am meisten geschreckt. Es war dumm und unlogisch - aber es war ein Unterschied, ob man allein starb oder mit Freunden.
Sie sagte nichts mehr, sondern hob zum zweitenmal den Laser und drückte ab.
Ein dünner, schmerzhaft greller Lichtstrahl sengte eine blendendweiße Narbe in die Nacht und explodierte an der Flanke des Drachenfels. Selbst über eine Entfernung von fast einer Meile konnte sie sehen, wie der Stein in dunklem Rot aufglühte und sich kleine Tropfen geschmolzenen Felsens wie glühende Leuchtkäferchen lösten und in die Tiefe stürzten. Sie verlöschten, lange bevor sie den Boden erreichten.
Tally schoß ein zweites Mal, und ein drittes und viertes und fünftes und sechstes Mal, immer und immer wieder, bis die Waffe in ihrer Hand überhitzt war und nur noch ein protestierendes Summen ausstieß. Dann ließ sie die Waffe einfach fallen, drehte sich herum und hob abweh-rend die Hand, als Angella neben sie trat.
»Bleibt hier«, sagte sie. »Und wehrt euch nicht, wenn sie kommen.«
»Wohin gehst du?« fragte Angella.
»Nicht sehr weit.« Tally lächelte, wandte sich an Hrhon und deutete erst auf ihn, dann auf Angella. »Gib acht, daß sie mir nicht folgt«, sagte sie. »Ich bin bald zurück.«
Sie ging, ehe Angella eine weitere Frage stellen konnte. Ihre Zeit lief ab. Wahrscheinlich blieben ihnen jetzt nur noch Minuten.
Über dem ausgetrockneten Ozean dämmerte der Morgen, aber hier unten, auf seinem Grunde, war die Nacht noch immer tief genug, Angella und Hrhon schon nach wenigen Schritten zu verschlucken. Tally wußte nicht, wie weit sie ging, aber sie spürte, daß es nicht sehr weit sein konnte. Sie waren in ihrer Nähe, und sie mußten so gut wie sie selbst wissen, wie wenig Zeit ihnen blieb; nur wenige Minuten, bis Jandhi und ihre Drachen kamen.