Aber die Zeit würde reichen. Was Tally verstehen konnte, wußte sie jetzt, und was es darüber hinaus noch gab, konnte sie nicht verstehen. Es gab nichts zu erklä-
ren. Eine tiefe, unnatürliche Ruhe hatte von ihr Besitz ergriffen, eine Art von psychischer Lähmung, die ihren Ursprung nicht in ihr selbst hatte, sondern von außen kam.
Trotzdem begann ihr Herz vor Schrecken zu hämmern, als sie die beiden Schemen vor sich sah. Sie blieb stehen.
Ganz instinktiv blickte sie noch einmal nach oben, zum Gipfel des Drachenfelsens empor. Aber der Himmel war noch leer.
»Du hast dich also entschieden.«
Es war der größere der beiden Schemen, der sprach. Er bewegte sich, kam auf eine fürchterliche, mit Worten nicht zu beschreibende Weise auf sie zu und erstarrte wieder zur Reglosigkeit, als er spürte, wie sehr sein Anblick Tally erschreckte. Sein Gesicht war das Wellers, und gleichzeitig das etwas von anderem, etwas unbeschreiblich Fremdem, Entsetzlichem, dessen bloßer Anblick Tally aufstöhnen ließ.
Es war Weller - der gleiche Weller, der sie in jener Nacht vor fünf Tagen zum Wasser geführt hatte, der die beiden Drachenreiterinnen getötet und sie und die beiden anderen sicher hierher geführt hatte. Gleichzeitig war es eine boshafte Karikatur Wellers, ein entsetzliches Ding, überlebensgroß, breiig, aufgequollen, hier und da zerlaufen wie weiches Wachs in der Sonne, eingesponnen in ein bleiches, pulsierendes Netz wie aus Spinn-seide, nur viel feiner, und lebend...
»Warum?« fragte sie einfach.
»Es gibt kein Warum«, antwortete Weller. »Sie und wir sind Feinde. Wir waren es immer. Du weißt, was getan werden muß.«
Tally nickte. Plötzlich war ihr kalt. Was, dachte sie, wenn sie das Feuer mit einem Vulkanausbruch löschte?
Vielleicht brachte sie einen zweiten, sehr viel größeren Schrecken auf die Welt. Dann lächelte sie über ihre eigenen Gedanken. Es war nur der Mensch in ihr, der diese Furcht spürte, das alberne dumme Wesen, das sich einbildete, seine Existenz wäre irgendwie wichtig.
»Du hast gewählt?« fragte Weller. Auch die zweite Kreatur bewegte sich jetzt, kam näher. Im ersten Moment war ihr Gesicht nicht mehr als eine glatte, totenbleiche Fläche, dann bildeten sich Mund, Nase und Augen. Karan. Tally sah weg.
»Ich habe gewählt«, sagte sie.
»Und wer soll es sein?« Das Etwas, das einmal Weller gewesen war, kam näher. Tally schauderte. Widerwillen ergriff sie, ein unbeschreiblicher Ekel, auch nur in der Nähe dieses entsetzlichen Dinges zu sein, das alles war, nur nicht mehr Weller.
»Warum ich?« stöhnte sie, wie unter Schmerzen.
»Warum nicht Karan oder... oder einer der anderen, die vor mir hierher kamen?«
»Karan war unser Bote«, erwiderte das Weller-Ding.
»Und du, weil du da warst. Wir haben auf dich gewartet, sehr lange. Auf jemanden wie dich. Alle anderen waren Narren, die gescheitert wären.«
Tally erschrak, als sie begriff, was die Worte der Kreatur bedeuteten. »Dann... dann hätte ich es auch...«
»Ohne unsere Hilfe geschafft?« Weller schüttelte den Kopf. Das weiße Gespinst, das ihn umgab, raschelte wie ein Totenhemd. »Nein. Vielleicht bis hierher. Vielleicht.
Doch nicht weiter.«
Er schwieg einen Moment. Dann deutete seine schreckliche fingerlose Hand in den Himmel. Tallys Blick folgte der Geste. Sie sah den titanischen dreieckigen Schatten, der sich von der Spitze des Drachenfelsens löste und in die Tiefe zu gleiten begann, dann einen zweiten, dritten...
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Weller. »Du hast dich entschieden? Wer von beiden? Angella, oder Hrhon?«
»Keiner«, sagte Tally.
Das entsetzliche Ding kroch und glitt ein weiteres Stück auf sie zu. Seine Hände waren jetzt nicht mehr weit von ihrem Gesicht entfernt. Tally unterdrückte nur noch mit letzter Kraft den Impuls, sich einfach herumzudrehen und davon zulaufen.
»Du weißt, daß wir ein Opfer verlangen«, sagte Weller.
»Nur so kann deine Rache vollzogen werden. Wer also?
Die Frau oder der Waga.«
»Keine von beiden«, sagte Tally noch einmal. Großer Gott, warum fiel es ihr so schwer, zu sprechen?
»Dann willst du...?«
»Mich«, sagte Tally. »Nehmt mich!«
Und sie nahmen sie.
Die beiden Drachen landeten, als sie zu Angella und Hrhon zurückkam. Der Waga hatte sich hinter einen Felsen geduckt und Angella an sich gepreßt; er hielt die Beine leicht gespreizt, um festen Stand zu haben, und hatte den Kopf fast zur Gänze in seinen Panzer zurückgezogen. Trotzdem schwankte er als die beiden gigantischen Kreaturen weniger als zwanzig Schritte neben ihm den Boden berührten.
Die Erde bebte. Für einen Moment schien die Nacht zurückzukehren, als die Drachen ein letztes Mal ihre gigantischen Schwingen entfalteten, und der künstliche Sturmwind trieb auch Tally noch einmal zwischen die Felsen zurück, in deren Schutz sie stehengeblieben war, um Jandhis Ankunft zu beobachten. Staub und kleine Kiesel überschütteten sie wie Hagel. Die Luft war erfüllt vom Reptiliengestank der Drachen.
Tally drehte das Gesicht aus dem Sturm, hob schützend die Hand über den Kopf und blinzelte aus zusammengepreßten Augen zum Himmel hinaus. Über ihr, so dicht, daß sie fast meinte, sie mit dem ausgestreckten Arm berühren zu können, kreisten zwei weitere Drachen, und eine oder anderthalb Meilen darüber ein weiteres Paar der geflügelten Reptilien. Jandhi überließ nichts mehr dem Zufall. Gut.
Geduldig wartete sie, bis die beiden Drachen zur Ruhe gekommen waren; großen häßlichen Vögeln gleich, die sich noch einen Moment unruhig auf der Stelle bewegten, ehe sich ihre schuppigen Hälse senkten, um den Reiterinnen das Absteigen zu ermöglichen.
Es ging trotz allem sehr schnell - auf jedem der beiden Drachen saßen fast ein Dutzend von Jandhis schwarzgekleideten Kriegerinnen, und Tally mußte ihre Bewegungen nicht länger als einen Herzschlag beobachten, um zu erkennen, daß sie es diesmal nicht mit Kindern wie Nil zu tun hatten, sondern mit Elitetruppen; Frauen, deren Bewegungen so schnell und präzise wie die von Maschinen waren. Jandhis Garde, wenn sie so etwas hatte, dachte Tally spöttisch.
Sie bewegte sich nicht. Die Drachenreiterinnen schwärmten rasch und beinahe lautlos aus und bildeten einen doppelten, zur Wüste hin offenen Kreis, in dessen Zentrum sich Angella und Hrhon befanden. Vier oder fünf der schlanken Gestalten traten auf sie selbst zu, sehr langsam, vorsichtig und mit angelegten Waffen.
Die Gesichter der Kriegerinnen waren hinter den her-untergeklappten Visieren ihrer Helme verborgen, so daß sie den Ausdruck darauf nicht erkennen konnte - aber Tally spürte die Nervosität der fünf Kriegerinnen. Mit einem leisen Gefühl der Beunruhigung kam ihr zu Bewußtsein, daß sie nicht irgendwer war. Sie hatte eine Spur von Blut aus jenem verfluchten Turm in der Gehran-Wüste bis hierher gezogen. Die bloße Erwähnung ihres Namens mußte diese Frauen mit Furcht oder Haß oder beidem erfüllen.
Sehr vorsichtig senkte sie die Hände, trat den Kriegerinnen einen Schritt entgegen und blieb wieder stehen, als sich eine Waffe drohend auf ihr Gesicht richtete.