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Und vielleicht hatte sie sogar recht, dachte Tally. Vielleicht hatte sie die Wahrheit gesagt, und der Weg, der mit dem Schmelzen von Stahl begann, konnte wirklich nirgendwo anders enden als im Tod.

Und trotzdem...

Etwas war falsch. Tally wußte nicht, was, oder woher dieses Wissen kam, aber sie wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß Jandhi ihr noch immer nicht alles erzählt hatte. Etwas - ein vielleicht kleiner, aber entscheidender Teil der Geschichte - fehlte noch.

»Ein wenig Zeit«, murmelte sie. »Wie lange? Tausend Jahre? Zehntausend?«

»Wenn es sein muß, ja«, antwortete Jandhi. »Aber es wird schneller gehen.«

Aber es war falsch! dachte Tally entsetzt. Begriff sie das denn nicht? Sie und ihre Schwestern waren keine Götter!

Woher nahmen sie das Recht, dem Schicksal ins Hand-werk pfuschen zu wollen?

»Ihr wollt also weitermachen«, sagte sie leise. »Ihr wollt damit fortfahren, Menschen zu töten, die nichts anderes tun, als ein wenig bequemer leben zu wollen. Ihr wollt weiter Städte niederbrennen, deren Bewohner sich nichts anderes zuschulden kommen lassen als - «

»Du verstehst noch immer nicht«, unterbrach sie Jandhi. »Wir - «

»Nein, und ich will es auch gar nicht verstehen!« sagte Tally. »Du denkst wirklich, du könntest mich überzeugen? Du denkst wirklich, ich würde bei diesem Wahnsinn auch noch mitmachen?«

»Ich weiß es«, erwiderte Jandhi, und sie sagte es mit einer Ruhe, die Tally einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Ich weiß es, Talianna, weil ich vor sehr vielen Jahren wie du in diesem Raum gestanden und den gleichen Worten gelauscht habe. Ich hätte mir all dies sparen können, aber ich wollte, daß du die Wahrheit kennst, ehe ich dich zu ihr bringe.«

»Ihr?« Tally spannte sich. »Wen meinst du?«

Aber Jandhi antwortete nicht. Statt dessen klatschte sie in die Hände. Die Tür in Tallys Rücken wurde aufgesto-

ßen, und das Klicken harter Insektenfüße war zu hören.

Sie spürte die Anwesenheit der beiden Hornköpfe, ohne sich zu ihnen herumdrehen zu müssen. Tally hatte die halbintelligenten Rieseninsekten niemals gemocht, aber sie hatte noch nie eine derart heftige, körperliche Abneigung verspürt wie in diesem Augenblick. Es war, als wäre mit den beiden Kreaturen das Böse selbst in den Raum getreten.

»Folge mir«, befahl Jandhi.

~ 7 ~

Je tiefer sie in der Berg eindrangen, desto intensiver wurde das Gefühl, sich dem Bösen zu nähern. Tally fror und gleichzeitig war sie in Schweiß gebadet. Die Nähe der beiden titanischen Kampfinsekten erfüllte sie mit körperlichem Unbehagen, ja, beinahe mit Schmerz, und das Gefühl wurde heftiger, je weiter sie sich dem Herzen der Drachenstadt näherten.

Sie hatte Jandhi zweimal gefragt, wohin sie sie brachte, und zweimal keine Antwort darauf erhalten. Aber ihr fiel auf, daß Jandhi jetzt mehrere Schritte vor ihr ging und auch darauf achtete, diesen Abstand einzuhalten, und daß die beiden Hornköpfe ein wenig dichter zu ihr aufge-schlossen hatten, als eigentlich nötig war. Es wurde dunkler. Die Zahl der Lampen nahm ab, und sie begegneten niemandem mehr, weder Mensch noch Hornkopf.

Tally hatte Angst. Angst vor dem, was sie in der Tiefe erwarten mochte, wer diese sie war, von der Jandhi gesprochen hatte, Angst vor dem finsteren Herz der Drachenstadt - denn genau das war es, worauf sie sich zubewegten: ein gewaltiges, durch und durch böses Herz. Der Feind. Das absolut Böse in Person.

Was waren das für Gedanken? dachte sie verwirrt.

Plötzlich war Wissen in ihr, Wissen oder plötzlich ein an Wissen grenzendes Ahnen, daß sie nicht haben konnte.

Irgend etwas in ihr zog sich zusammen, schreckte zurück vor dem Ding, das da in der Tiefe lauerte, uralt und mächtig verwundbar, aber bisher unerreichbar für...

Und plötzlich begriff sie, daß es nicht ihre Gedanken waren. Es war das Ding in ihr, das Weller (Weller?) ihr mitgegeben hatte, Gäas mörderisches Geschenk an ihre uralte Gegenspielerin.

Gäa... Die Urmutter, Hüterin allen Lebens. Welcher Hohn! Die Bestie dort draußen war so fremd und tödlich wie das Ding, das diesen Berg beherrschte, und so wenig auf ihrer Seite wie Jandhi und ihre Schwestern.

Tally versuchte sich vorzustellen, wo dies alles enden mochte, aber es gelang ihr nicht. Irgend etwas in ihr, der Teil, der noch Mensch war, schreckte vor dem blo-

ßen Gedanken zurück; so heftig, daß sie nur mit Macht einen Aufschrei unterdrücken konnte.

Schließlich betraten sie einen Teil des Höhlenlaby-rinths, der kaum mehr Spuren einer künstlichen Bear-beitung aufwies. Die Lampen mit ihrem unangenehmen weißen Licht waren längst hinter ihnen zurückgeblieben; nur hier und da blakte noch eine Fackel in einem eisernen Halter an der Wand, und die Kälte hatte einer stickigen, unangenehm feuchten Wärme Platz gemacht.

Ein Geruch wie nach faulenden Pflanzen schlug ihnen entgegen, und auf dem Boden lag Staub, manchmal so hoch, daß sie bis an die Knöchel in der flockigen grauen Decke versank. Jandhi hustete von Zeit zu Zeit, und irgend etwas, sehr sehr weit vor ihnen, nahm diesen Laut auf und warf ihn zurück, sonderbar gebrochen und verzerrt, als klänge noch etwas anderes, Böses darin mit.

Tally vesuchte vergeblich, die Gedanken und Gefühle zu unterdrücken, die ihr Bewußtsein überschwemmten.

Das Etwas in ihr wurde stärker, mit jedem Schritt, dem sie sich dem unsichtbaren Feind näherten. Weller hatte gelogen, als er gesagt hatte, sie könnten sie bis Sonnenuntergang schützen; vielleicht hatte er sich auch schlichtweg geirrt. Aber es war gleich. Nichts spielte jetzt noch eine Rolle. Sie war am Ziel.

Sie blieben erst stehen, als sie nach Tallys Schätzung schon sicherlich wieder den halben Weg zum Schlund hinabgestiegen waren. Des letzte Licht war längst über ihnen zurückgeblieben, aber einer der Hornköpfe hatte im Vorübergehen eine Fackel aus einem der Wandhalter mitgenommen, so daß sie sich im Zentrum eines flak-kernden, ständig seine Form verändernden Kreises blasser roter Helligkeit bewegten.

Manchmal mußten sie durch knöcheltiefe Pfützen aus faulig riechendem Wasser waten, das aus Rissen in der Decke tropfte, dann wieder wurde es so heiß, daß Tally kaum mehr atmen konnte und ihr Gesicht brannte. Die Wände hier unten waren nicht bearbeitet, sondern irgendwann, vielleicht schon vor Jahrmillionen, durch eine Laune der Natur entstanden; gleichzeitig erinnerten sie Tally an übergroße Wurmgänge, und ein Teil ihrer Phantasie, über den sie irgendwie die Kontrolle verloren hatte, gaukelte ihr schwarze, sich windende schlangenähnliche Dinge vor, die die Dunkelheit vor ihr erfüllten, aber stets verschwanden, ganz kurz, bevor das Licht der Fackel sie berühren konnte.

Aber dann war es nur eine ganz normale, wenn auch außergewöhnlich große Tür, vor der sie stehenblieben, eine Tür aus geschwärztem Eisen, an dem der Rost seit Jahrtausenden fraß, ohne ihm ernsthaft Schaden zufügen zu können. Tally erwartet, daß Jandhi klopfen oder sich anders bemerkbar machen würde, aber sie tat nichts dergleichen, sondern blieb einfach reglos stehen.