Der Gedanke entglitt ihr, bevor sie ihn zu Ende denken konnte. Die Vision wurde stärker. Sie glaubte Licht zu sehen, ein wunderschönes, sanftes Licht, das ihren Augen aber weh tat, weil sie so lange nichts als Dunkelheit gesehen hatte. Dann glitt sie wieder hinein in den schwarzen Abgrund, der sich dort aufgetan hatte, wo ihre Gedanken sein sollten. Das nächste, was sie wahrnahm, war die Berührung sanfter Hände, die irgend etwas mit ihrem Gesicht taten. Es schmerzte; gleichzeitig tat es unglaublich gut.
Kaltes Metall berührte ihre Lippen, dann ergoß sich ein Strom unglaublich wohlschmeckenden Wassers in ihren Mund. Sie trank; so gierig, daß sie sich verschluckte und die kostbare Flüssigkeit fast zur Gänze wieder erbrach.
Aber sofort war das Metall wieder da, und das Wasser, das das Leben in ihren Körper zurückspülte.
Sie versuchte die Lider zu heben. Zwei gleißende Dolche aus Licht stachen in ihre Augen. Sie stöhnte, preßte die Lider wieder zusammen und trank weiter. Seltsam
- sie hatte immer gedacht, der Tod brächte die große Dunkelheit. Wieso war es hell?
Es war diese Frage, die sie zum erstenmal auf den Gedanken brachte, daß es vielleicht nicht der Tod war.
Und daß die Vision wahr sein konnte. Sie hatte Tallys Stimme gehört!
Mit einem Ruck öffnete sie die Augen.
Das Licht tat weh, aber sie konnte sehen.
Sie befand sich noch immer in der Zelle, in die man Hrhon und sie vor einer Million Jahren eingesperrt hatte, aber sie war nicht mehr gefesselt. Die Tür stand weit offen, und gelbes warmes Licht fiel herein. Die stähler-nen Ringe, die ihre Hand- und Fußgelenke gebunden hatten, waren durch saubere weiße Verbände ersetzt worden, ihr Kopf lag auf frischem Stroh, und ein schwarzer Mantel bedeckte ihren fiebergeschüttelten Körper.
Tally saß neben ihr, eine metallene Schale mit Wasser in der linken und einen sauberen Lappen in der rechten Hand, mit dem sie von Zeit zu Zeit ihre Stirn betupfte.
Hinter ihr, schon wieder halb von der Dunkelheit verschlungen, erhob sich ein gepanzerter massiger Schatten: Hrhon. Sie mußte sehr lange so dagelegen haben, seit ihre Fesseln gelöst worden waren.
Angella versuchte zu sprechen, aber es gelang ihr erst, nachdem Tally abermals die Schale an ihre Lippen gesetzt und ihr zu trinken gegeben hatte. Sie fühlte sich schwach.
So unendlich schwach. Selbst zu schwach, um Erleichterung zu empfinden.
»Du... verdammte... Närrin«, stöhnte sie. Die wenigen Worte kosteten ihre ganze Kraft. Ihre Lippen platzten.
Salziges Blut mischte sich in das kalte Wasser auf ihrer Zunge. Trotzdem sprach sie weiter. »Bist... du...
jetzt ... zufrieden?«
Tally blickte sie sehr ernst an. Sie lächelte, aber es war nur ein bloßes Verziehen der Lippen. Der Ausdruck in ihren Augen war Sorge. Und - ja, und noch etwas. Etwas, das Angella nicht verstand. Aber es machte ihr Angst.
»Wie fühlst du dich?« fragte sie.
»Gut, das... das siehst du doch.« Angella versuchte zu lachen, aber ihre Schwäche ließ ein qualvolles Husten daraus werden. »Wieso lebst du noch?« stöhnte sie. »Und wo warst du die ganze Zeit, verdammt noch mal?«
»Welche Frage soll Tally zuerst beantworten?« fragte Tally ruhig.
Angela blickte sie irritiert an. Das schwache Licht zauberte Schatten auf Tallys Züge, wo keine sein durften, und Angellas eigene Schwäche fügte Linien des Schreckens hinzu: für einen kurzen, aber entsetzlichen Moment war es nicht mehr Tally, die neben ihr saß, sondern ein abscheuli-ches Ding mit Tallys Zügen, ein grinsender Totenschädel, eingesponnen in ein Netz feiner weißer Fäden, die pulsierten und sich wanden wie Milliarden haarfeiner lebender Würmer. Dann drehte Tally das Gesicht wieder ins Licht, und die entsetzliche Vision verschwand. Aber die Angst blieb.
»Die Schwäche wird bald vergehen«, fuhr Tally fort. »Du bist erschöpft, aber nicht ernsthaft verletzt.«
»Was zum Teufel ist passiert?« murmelte Angella. »Wo warst du die ganze Zeit?«
»Tally hat getan, wozu sie hergekommen ist«, antwortete Tally geheimnisvoll. »Es tut ihr leid, wenn ihr leiden mußtet. Aber es hat lange gedauert, Hrhon und dich zu finden.«
Und es dauerte auch lange, bis Angella den Sinn von Tallys Worten begriff. Und als sie es tat, da war der Gedanke ein solcher Schock, daß sie sich aufsetzte und für einen kurzen Moment selbst ihre Schwäche vergaß.
Aber wirklich nur für einen kurzen Moment. Dann wurde ihr übel und schwindelig zugleich, und sie brach in Tallys Armen zusammen.
»Hab Geduld«, sagte sie. »Dein Körper braucht Zeit, die verlorenen Kräfte zu regenerieren. Er ist sehr verwundbar, weißt du? Aber du bist auch stark. Gib dir selbst ein wenig Zeit, und Tally wird dich hier herausbringen.«
Irgend etwas war falsch, dachte Angella. Entsetzlich falsch. Aber sie wußte nicht, was.
»Rausbringen?« murmelte sie. Aber wieso? Es war nicht möglich. »Jandhi. Was... was ist mit Jandhi... und ihren Drachen?«
»Sie sind tot«, antwortete Tally, und plötzlich war eine Kälte in ihrer Stimme, die Angella trotz allem erschauern ließ. Und ein entsetzlicher Triumph.
»Tot?«
»Tally hat sie vernichtet«, bestätigte Tally. »Sie kam, um es zu tun. Und sie hat es getan.« Sie hob rasch die Hand als Angella eine Frage stellen wollte, und schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Du wirst alles erfahren, aber jetzt mußt du deine Kräfte schonen. Glaubst du, daß du gehen kannst?«
Angella glaubte es - aber sie konnte es nicht. Sie hatte nicht einmal die Kraft, sich auf Hände und Knie hochzustemmen. Tally fing sie abermals auf, als sie zusammenbrach.
»Dann wird Hrhon dich tragen«, bestimmte Tally. »Du mußt hier heraus. Dieser Ort ist kalt und gefährlich.« Sie stand auf und hob die Hand. Beinahe lautlos näherte sich der Waga Angella, hob sie hoch und wandte sich zur Tür.
Sein Griff war sehr hart, und er tat weh, und trotz ihrer Schwäche empfand Angella es als unwürdig, wie ein Kind getragen zu werden. Sie protestierte schwach, aber natürlich ignorierte Hrhon ihre Worte.
Gelbes Licht nahm sie auf, als sie die Zelle verließen und den Weg zurückgingen, den sie vor so vielen Tagen gekommen waren. Angella verlor ein paarmal das Bewußtsein, während Hrhon sie weiter nach oben trug, und die übrige Zeit dämmerte sie auf der schmalen Trennlinie zwischen Wachsein und Schlaf dahin; alles um sie herum war unwirklich, unwichtig, irreal.
Und trotzdem fiel ihr auf, wie sehr der Drachenfels sich verändert hatte: er war still geworden. Still und dunkel.
Die Zauberlampen, die den Weg hier herunter erhellt hatten, waren zum größten Teil erloschen. Einige von ihnen flackerten wie große blinzelnde Augen, und in manchen glomm noch ein gelbes Licht, aber die meisten waren blind. Dafür brannten Fackeln in den Gängen, die sie nahmen, um weiter nach oben zu gelangen.
Der Berg war tot. Vielleicht war dies der einzig wirklich klare Eindruck, den Angella hatte, während Hrhon sie trug: der Berg hatte sich in ein gigantisches Grab verwandelt.